KOMMENTARE
: Vor einer neuen deutschen Hysterie

■ Die „politische Massenbewegung Ost“ und das Verfassungsreferendum in Brandenburg

Nichts widersteht mehr der sturzbachartigen Umwertung aller Werte in der ehemaligen DDR. Das Kürzel Ka-De-We, Sehnsuchtsbegriff der 1989 durch die Maueröffnungen dringenden Massen, hat eine neue Bedeutung erhalten: Kampf dem Westen! Der Streit um die Finanzierung der deutschen Einheit droht zunehmend in eine psychologische und kulturelle Dynamik zu geraten, die ihn unlösbar machen kann. Es geht nicht mehr nur um Besitzstandswahrung auf der einen, Sozialverteidigung auf der anderen Seite. Es geht um die Verdichtung von Ressentiments, darum, daß wir einem Gemütszustand anheimzufallen beginnen, den der ungarische Soziologe Istvan Bibo mit dem Begriff „deutsche Hysterie“ gekennzeichnet hat. Damit meinte er das Versagen der deutschen Führungsschichten, die anstehenden historischen Aufgaben zu meistern und die daraus resultierenden kollektiven psychotischen Einstellungen.

„Ich komme aus dem Früher“, sagt Peter-Michael Diestel und verteidigt damit lebensgeschichtliche Kontinuität, die „Identität“ des DDR-Bürgers. Nachträglich wird eine Gesellschaft erzwungener Gemeinsamkeit, die doch in ihrem Alltag vom Kampf aller gegen alle, von den lebensnotwendigen Beziehungsnetzen, von Ausgrenzung und Isolation bestimmt war, zu einem idyllischen Ort umgelogen. „Wir waren arm, aber solidarisch.“ Das ist der Stoff, aus dem die bösen Träume sind. Vergeblich mahnen Aktivisten der Bürgerbewegung des Jahres 1989, wie Wolfgang Templin, den Staub der DDR abzuschütteln. „Ihr müßt euch ändern“, rufen sie den Wessis zu, „und wir müssen es auch.“ Was aber, wenn Westler, weit davon entfernt, die deutsche Einheit zum Anlaß einer Generalinventur zu nehmen, die Ossis Tag für Tag wissen lassen, daß sie überflüssig sind, sie in ihre Vergangenheit zurückstoßen, sie mit Stereotypen überziehen? Die politische Antwort wird uns gegenwärtig präsentiert: das Projekt einer parteiübergreifenden Massenbewegung Ost, das neue Identitätsgefängnis.

Trostloserweise gerät jetzt auch ein Projekt in den Strudel des neuen ostdeutschen Abgrenzungswahns, das ein besseres Schicksal verdient hätte: die soeben beschlossene Verfassung des Landes Brandenburg. Seinem ganzen Charakter nach ist dieses Dokument nicht fürs Einigeln und Abschotten gemacht. Seine avanciertesten Bestimmungen im Grundrechtskatalog wie im Bereich staatlicher Organisation verweisen auf einen künftigen deutschen Rechtszustand, der mehr ist, als die Enquete- Kommission des Deutschen Bundestages vorzuschlagen wagen wird.

Die brandenburgische Verfassung kann neue Formen der Bürgerbeteiligung auf den Weg bringen, die Wahrnehmung neuer Individualrechte ermöglichen, eine ökologische Gesetzgebung decken, mit einem Wort: sie kann einer linken und demokratischen Politik in Deutschland einen neuen Anstoß geben. Nur: sie muß von ihren Initiatoren auch so verstanden werden! Christian Semler