: Warten auf Miguel
Miguel Indurain gewann den 75. Giro d'Italia ■ Aus Mailand Ole Richards
Eros Poli mußte früh aufstehn. Der Italiener mußte das abschließende Zeitfahren des 75. Giro d'Italia eröffnen. Weil er nach 21 Etappen 148. war und damit letzter. Ero Poli strampelte die 66 Kilometer von Vigevano nach Mailand im Alleingang und fast alleine. Als der Mannschafts-Olympiasieger von 1984 das Ziel am Mailänder „Piazzale del Cannone“ erreichte, machten sich die Tifosi erst auf den Weg zum Giro. Nach 1:24:58 Stunden hatte Eros Poli Feierabend. Als Letzter der Gesamtwertung wurde er mit einer Uhr getröstet — damit er beim nächsten Mal noch früher aufstehn kann. Keiner hat auf ihn gewartet.
Uwe Ampler war selbstbewußt. „Der zehnte Platz ist noch drin“, stachelte ein Journalist den Elften an. „Der neunte auch noch“, tönte Ampler zurück. Als Friedensfahrer gelangen ihm einst vier Zeitfahrsiege bei den Amateuren. Als Giroradler bei den Profis rollt er hinterher. Der Leipziger Weltmeister und Olympiasieger schockt bis heute mehr die Reporter mit seinen einsilbigen, stockenden Antworten als die Konkurrenz mit trockenen Attacken. Ampler muß in diesem Jahr den Beweis seiner Weltklasse erbringen. 66 Kilometer Kampf gegen die Uhr bescherten ihm eine neue Niederlage: Keine Verbesserung. Ampler wartet auf seine letzte Chance bei der Tour de France. Auf ihn wartet niemand.
Claudio Chiapucci ist ein verlierender Sieger. Der Liebling italienischer Radsportfans strampelte seine vierte große Rundfahrt in Folge erfolgreich zu Ende: Tour de France 1990 Zweiter, Giro d'Italia 1991 Zweiter, Tour de France 1991 Dritter, Giro d'Italia 1992 Zweiter. Nur gewinnen kann der arme Claudio nicht. Im Zeitfahren nach Mailand blickte er froh nach, weil Titelverteidiger Franco Chioccioli noch langsamer fuhr. Aber er sah auch ängstlich nach hinten, weil ein stolzer Spanier zur Demütigung heranrollte. Vor den Augen der traurigen Tifosi ließ sich Chiapucci von Miguel Indurain überholen. Drei Minuten Vorsprung reichten nicht. Selbst auf ihn hat im Ziel dann kaum jemand gewartet.
Miguel Indurain hatte am letzten Giro-Tag viel Zeit. Er wollte ihn genießen. Seine überragende körperliche und mentale Verfassung, sein mehr als zwei Minuten Vorsprung, seine bisherigen 14 Zeitfahrtriumphe seit 1984 — sie gaben ihm die Überzeugung, an diesem Tag unschlagbar zu sein. Der neue Weltranglisten-Erste der Profiradler bot eine Galavorstellung: Wo andere auf dem Fahrrad hin und her rackern, gleitet er elegant dahin. Wo andere schmerzverzerrt das Gesicht verziehen, ziert ein Lächeln des Spaniers Antlitz. Beste Zwischenzeit, den schärfsten Verfolger Chiapucci eingeholt, zwei Minuten 46 Sekunden schneller als alle anderen.
Weil alle auf Miguel Indurain gewartet haben. Die spanischen Fans mit ihren rotgelben Fahnen und hell leuchtenden Bengalfeuern. Die italienischen Journalisten, die ihm in der 'Gazetta dello Sport‘ seit drei Tagen eine Sonderseite widmeten. Seine Familie, die endlich von der Ehrentribüne befreit werden wollte. Alle warteten auf Miguel. Es hatte sich gelohnt.
Schlußklassement: 1. Indurain (Spanien) 103:36:08 Stunden, 2. Chiappucci 5:12 Minuten zurück, 3. Chioccioli 7:16, 4. Giovanetti (alle Italien) 8:01, 5. Andrew Hampsten (USA) 9:16, 6. Franco Vona (Italien) 11:12 ... 11. Ampler 21:12, 27. Heppner 1:08:40 Stunden, 31. Bölts 1:23:29, 35. Jentzsch 1:44:34, 36. Holzmann 1:46:18, 81. Henn 3:04:57, 121. Kappes 4:04:59, 124. Schur 4:07:19.
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