Graumelierte Wolldecke

■ Elton John spielte am Montag in der Waldbühne

So wie der Fußball geht auch allmählich der Pop vor die Hunde. Dort, wo Schönheit nun einmal nicht von innen kommt; wo der Wert sich aus dem beschleunigten Verbrauch erst nach der vollständigen Konsumtion als defizitäres Ereignis, als Sehnsucht nach dem Unwiederholbaren, einstellt — dort sind die beiden Massenbetriebe zu Hause gewesen. In den siebziger Jahren. Damals hatte ein Spiel neunzig Minuten, genau wie ein Konzert. Heute dauert Fußball mit Verlängerung, Elfmeterschießen und allem Drumherum viel zu lange. Und Pop- Gala-Abende wie der von Elton John in der Wahlbühne etwas bemüht inszenierte leider auch.

Der charismatische Brite hätte sein Publikum ganz nebenbei erobern können. Da saßen diese abertausend Menschen schon seit den Nachmittagsstunden in der prallen Sonne, ließen Schultheiss in sich hineinsickern, teilten mit unbekannten Sitzplatznachbarn ihre mitgebrachten Sandwiches und kamen einander auf graumelierten Wolldecken näher, als würde Woodstock von schüchternen Bürgersleuten noch einmal nachgespielt. Irgendwann wären die Hüllen gefallen, ein Sieg der offenen Therapie über die Verwaltung. Doch statt zwischenmenschlicher Erregbarkeit verströmte Elton John so gut wie gar keine Lust. Aller Schwulst und alle Schwere blieben im formalisierten Mannschaftsrock, von fünf Mietmusikern auf Stadionniveau ausgerichtet, auf der Strecke. Reine Ökonomie, wie sie Väter ihren Söhnen flüstern: Je unbeteiligter du rangehst, umso länger kannst du.

Schade nur, daß Elton John, dem schon so manches Konzert buchstäblich in die Hose gegangen ist, sich auf diese widerlich spätkapitalistisch- leidenschaftslose Regel eingelassen hatte. Den ganzen Abend über sitzt der einstige König der Exzentriker breitbeinig hinter einem neumodischen Midi-Keyboard und klimpert selbst die unerhörtesten Melodien wie »Burn Down The Mission« oder »Tiny Dancer« so nachlässig herunter, als wäre er mit wichtigeren Dingen beschäftigt, obwohl ihm das gesamte Publikum devot lauscht und jeden Krächzer frenetisch feiert.

Lieblos auch die Zusammenstellung des Repertoires: wie von Fernbedienung bewegt, hüpft die Begleitband zwischen rührenden Jugendballaden und abgeklärtem Pomprock hin und her, grinst blöde und wackelt dazu mit den Hüften wie durchschnittsdumme Rockersäcke, die in der Disco nur ans Ficken denken. [Rumms! Wunderbar, ein Satz wie ein Kond... ähem, ein Fels! d. säzzer] Getanzt wird nicht, und auch eingefleischte Fans kriegen nur mühsam ihre Beine auseinander. Glücklich wird heute niemand gemacht: Über die oberen Ränge wacht Bereitschaftspolizei, die Treppen kontrolliert ein aufmerksames Security- Team und vor der Bühne schützen Bodyguards den Star vor zudringlichen VerehrerInnen.

Nicht einmal betrinken kann man sich. Der Plastikbecher Bier für 3,80 Mark wird hauptsächlich mit Schaum gefüllt, wer sich darüber beschwert, erhält von der Tresenkraft einen eisigbösen Blick und eine Pfütze als gnädigen Nachschlag. Bei 10.000 solcher Zapfstreichen spart die kleine Bude im Grünen knapp 600 Liter zu einem Freilichtverkaufspreis von 7.500 Mark. Immerhin.

Aber die Leute wollen ja auch gar nicht trinken. Sie mögen den Rausch genausowenig wie Elton John seine Coca Cola Light, an der er ab und an sich selbst überwindend nippt. Sie sind schon lange von Fußball auf Tennis umgestiegen und hören Musik nach der Qualität ihrer Stereoanlage. Nur eines haben sie noch mit den Hools aus allen Westkurven der Welt gemeinsam: Singen und Feuerwerkskörper abbrennen. Statt der Böller gibt es Wunderkerzen, statt des Schlachtrufes ertönt »Rocket Man« im Publikumschor: »And I think it's gonna be a long long time«. Der Weg ins Stadion und zurück nach Hause wird von Mal zu Mal länger. Harald Fricke