Kannibal statt inter- national

Die Düsseldorfer Ausstellung „K.I.“ dokumentiert das Scheitern einer vereinigten Kulturavantgarde vor siebzig Jahren  ■ Von Stefan Koldehoff

Drei Tage sollte der international besetzte Kongreß im großen Saal des Düsseldorfer Regierungspräsidiums dauern. Schon am zweiten Tag aber hatte Raoul Hausmann die Nase gestrichen voll: Er gehöre weder zu den Künstlern noch zu den Fortschrittlichen, und er sei nicht international sondern kannibal, erklärte der Berliner Dadaist dem Auditorium formvollendet auf deutsch und französisch. Lauthals O Tannenbaum singend, verließ Hausmann danach den Saal. Ihm folgte Theo van Doesburg als Vertreter der holländischen „De Stijl“-Gruppe wie dann auch El Lissitzky, Hans Richter, Stanislaw Kubicki, Otto Freundlich und Franz W. Seiwert. Der erste „Kongreß der Union internationaler fortschrittlicher Künstler“ war damit im Mai 1922 gescheitert.

Dabei hatte zunächst alles so harmoniesüchtig begonnen: Die für damalige Verhältnisse durchaus fortschrittlich gesinnte Künstlergruppe „Junges Rheinland“ hatte aus tief sitzender Verärgerung über den rheinischen Akademie-Klüngel zum Boykott der Großen Düsseldorfer Kunstausstellung aufgerufen und die Gründung einer „Union internationaler fortschrittlicher Künstler“ aufgefordert. „Die traurige Abgeschlossenheit der Geister muß endlich zu Ende gehen“, hieß es in dem Gründungsaufruf, den neben den Mitgliedern der Gruppe auch Else Lasker-Schüler und Christian Rohlfs, Oskar Kokoschka, Wassily Kandinsky und Jankel Adler unterzeichneten. „Jenseits von allen Staatsfragen und ohne den leisesten politischen Hintergedanken und eigensüchtigen Nebenzweck muß es auch für uns heute heißen: ,Künstler aller Länder vereinigt Euch!‘ Die Kunst muß international werden, oder sie wird aufhören zu sein.“ Was allerdings das Fortschrittliche in der Kunst der Aufgeforderten ausmachte, blieb vorsichtshalber unausgesprochen. „Wir stehen unter dem Zeichen der Synthese“, hatte der gerade in Moskau geschaßte Kandinsky in einem Text für das Düsseldorfer Treffen reichlich schwammig formuliert. „Alle Wege, auf denen wir bis heute voneinander getrennt gingen, sind ein Weg geworden — ob wir wollen oder nicht.“ KünstlerInnen aus Japan, Frankreich und den Niederlanden wollten ebenso wie KollegInnen aus Italien und Irland, Österreich und Rumänien, Polen und der Ukraine. VertreterInnen der Dresdner und der Darmstädter Sezession waren ebenso bereit, sich auf den Weg zu machen, sowie der Deutsche Werkbund und der aus Berlin als Beobachter angereiste Herwarth Walden — nur wohin dieser Weg führen sollte, mochte niemand wissen. Bei der Beurteilung geistiger und künstlerischer Fragen wollte man sich lieber brav der Diskussion enthalten, hatte der Kongreß mehrheitlich beschlossen. Die inhaltliche Auseinandersetzung über gemeinsame künstlerische Utopien und Perspektiven fand also in Düsseldorf gar nicht statt. An ihrer Stelle wurde vor allem über Organisatorisches und über Geld diskutiert: 149 Paragraphen einer schließlich verabschiedeten Satzung legten fest, auf welche Weise künftig Arbeitsgemeinschaften und Atelierkommunen, Ausstellungen, Kongresse und Musikfeste wenigstens theoretisch hätten stattfinden und finanziert werden können. Wie weit diese theoretisierenden überlegungen von der Realität entfernt waren, deutet schon die parallel stattfindende 1. Internationale Kunstausstellung im Kaufhaus Tietz nebenan an. In schlechtester akademischer Tradition hingen hier nach wie vor die Bilder nach Ländern und nicht nach Sinnzusammenhang oder ästhetischer Korrespondenz nebeneinander — von Internationalität keine Spur.

Während gerade in den vergangenen Jahren seit Öffnung und Ende der Sowjetunion der russische Konstruktivismus in beinahe zu vielen Ausstellungen präsentiert worden ist, fehlte bislang jede Untersuchung über seine Auswirkungen auf Europa und Deutschland. Ein Team von jungen KunsthistorikerInnen hat den 70.Jahrestag des Düsseldorfer Kongresses und der Ausstellung bei Tietz zum Anlaß für eine analytische Rekonstruktion genommen. Die Ausstellung Konstruktivistische Internationale — Utopien für eine europäische Kultur führt mit Hilfe von rund 150 Gemälden, Zeichnungen, Skizzen und Architekturmodellen vor, daß schließlich nicht das vom „Jungen Rheinland“ angestrebte Bündnis sich als zukunftsträchtig erwies. Von den in Düsseldorf gebliebenen Individualisten, die nach wie vor den Ideen des Expressionismus nachhingen, war in der Folgezeit nicht mehr viel zu hören oder zu sehen. Ihr Traum von der großen unpolitischen Künstlergemeinschaft mit gemeinsamen Ateliers wurde nie Wirklichkeit.

Tatsächlich eine Internationale nach sowjetischem Vorbild zu gründen, vermochten indes letztlich auch die in Düsseldorf ausgezogenen KonstruktivistInnen nicht. Anders als in der Sowjetunion nämlich, in der zu Beginn der zwanziger Jahre die Neue Ökonomische Politik (NEP) verkündet worden war, fehlte für die westeuropäischen KünstlerInnen das gesellschaftlich-politische Umfeld für die aktive Mitarbeit am Aufbau einer neuen Gesellschaft. Im Herbst 1922 trafen sich die Konstruktivisten noch einmal zu einem Kongreß in Weimar, um zu diskutieren und auszuprobieren, was sie selbst eigentlich wollten. Die jetzt in Düsseldorf zu sehende Rekonstruktionsausstellung stellt dabei deutlich die Forderung nach einer allgemein verständlichen und elementaren Formensprache in den Vordergrund. Sie manifestiert sich in den typographie- orientierten Entwürfen von Walter Dexel ebenso wie in den Verkehrsschilder-Piktogrammen von Karl Peter Röhl oder den klar gegliederten Hausentwürfen von Theo van Doesburg.

Sein autoritär geleiteter viermonatiger „Stijl-Kursus“ in Weimar setzte das wesentlich konkreter als das im Frühjahr in Düsseldorf vom „Jungen Rheinland“ formulierte Programm seiner niederländischen Avantgardegruppe um. In seinem ersten Manifest hatte nämlich „De Stijl“ schon 1918 den Abschied vom Selbstverständnis des Künstlers als genialischem Individum gefordert und festgestellt: „Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewußtsein. Das alte richtet sich auf das Individuelle, das neue auf das Universelle.“ Doesburg setzte dabei allein auf ästhetische Formen und Gestaltungsprinzipien, die sich aus der Kunst selbst ergaben. Einen sozialen oder gar politischen Einfluß, den die zeitgleich vor allem in Moskau und St.Petersburg regelrecht Kunst produzierenden russischen KonstruktivistInnen um Malewitsch, Popowa und Tatlin forderten, lehnte er kategorisch ab: „Kunst, wie wir sie verstehen, ist weder proletarisch noch bürgerlich. Sie ist auch nicht durch die gesellschaftlichen Umstände bedingt, sondern entwickelt vielmehr Kräfte, die ihrerseits die ganze Kultur bestimmen.“

Die verständlich abgefaßten Aufsätze im grundlegenden Katalog belegen, daß dieses Konzept den längeren Bestand hatte. Die Abstraktion, die Kandinsky 1910 zum ersten Mal auf der Leinwand wagte, entwickelten die Konstruktivisten weiter, um sie auf das künstlerische Selbstverständnis zu transportieren. Der Weg zur Moderne, den das „Junge Rheinland“ nicht einmal suchen mochte, war beschritten.

K.I. — Konstruktivistische Internationale schöpferische Arbeitsgemeinschaft. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, bis 23.August 1992; Staatliche Galerie Moritzburg, Halle, vom 13.September bis 15.November 1992. Katalog: 344 Seiten mit 130 Farbtafeln und ca. 200 Textabbildungen, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, Paperback 59DM