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„Wer nicht zahlt, beißt nicht“

Seehofers Gesundheitsreform spaltet KassenpatientInnen in zwei Klassen: reiche und arme  ■ VON ANNETTE JENSEN

Vollauf zufrieden mit den Vorschlägen des neuen Gesundheitsministers Horst Seehofer können die ArbeitgeberInnen sein: Sie sollen nicht behelligt werden. Das Geschrei der letzten Monate, die Firmen stünden mit ihren Sozialabgaben am Rande der Belastbarkeit, hat ihnen Erfolg beschert. Oberstes Ziel der Seehofer-Pläne ist die Stabilität der Krankenkassenbeiträge, denn während beispielsweise die AOK in den westlichen Bundesländern im ersten Quartal dieses Jahres 11,5 Prozent mehr bezahlen mußte, haben sich die an der Grundlohnsumme orientierten Einnahmen nur um 5,5 Prozent erhöht.

Dafür müssen die PatientInnen nicht nur mit einer weiteren Einschränkung der Leistungen, sondern auch mit barer Münze zahlen. 3,2 Milliarden Mark sollen sie zusätzlich zu den Krankenkassenbeiträgen aufbringen. Mit Zusatzversicherungen für „Wahlleistungen“, insbesondere für Gebisse, will Seehofer das Solidarprinzip aufweichen. Der Kassenpatient wird zusätztlich zum Privatpatienten — und wer nicht zahlen kann, kann bald auch nicht mehr beißen. Den ÄrztInnen will der Gesundheitsminister „zumuten“, daß sie für eine Weile keine höheren Gewinnsteigerungen einstreichen können als die Durchschnittsverdiener. Und die Pharma-Industrie soll 1,1 Milliarden Mark Kosten einsparen.

Die Vorschläge des Gesundheitsministers sind keineswegs originell. Mit der Prämisse, die Kosten zu zügeln, tritt er nicht nur in die Fußstapfen seines Ziehvaters Norbert Blüm, sondern setzt auch die 1977 von der sozialliberalen Koalition begonnene Politik fort. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, daß es wenig nützt, lediglich an den Symptomen herumzudoktern, denn schon nach wenigen Jahren kränkelt das Gesundheitswesen wieder.

Dreh- und Angelpunkt dieser Preisspirale ist der medizinische Fortschritt, an dem alle Beteiligten aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse haben.

Die ÄrztInnen. „Wenn man wirtschaftlich arbeitet, müßte man ein Beratungsgespräch nach ein bis zwei Minuten beenden“, sagt Lilo Schön, Referentin bei der Ärztestandesorganisation Hartmannbund. 10,20 Mark überweist die AOK als ärmste Kasse dem Arzt für sein Gespräch, eine Injektion bringt etwa 4 Mark. Untersuchungen mit aufwendigen Geräten läßt die Kasse der Ärzte hingegen lauter klingeln.

Auch die Ausbildung an den Universitäten und in den Krankenhäusern zielt vor allem darauf ab, mit aufwendigen Geräten schnell zu einer Diagnose zu kommen, auf die sich dann die Therapie stützt. „Mit unseren fünf Sinnen wahrzunehmen lernen wir nicht“, klagt die Medizinstudentin Jeanette Jung.

Während die Zahl der Versicherten in den letzten 20 Jahren konstant geblieben ist, hat sich die Zahl der KassenärztInnen um etwa 50 Prozent erhöht. Einen Boom gab es vor allem bei Fachärzten — die Anzahl der Urologen-, Orthopädie- und Neurologie-Praxen hat sich verdrei- bis vervierfacht. Aber obwohl in Deutschland keineswegs ein dramatischer Anstieg von Blasenleiden zu verzeichnen ist, sind die Wartezimmer ständig proppenvoll. Oft laborieren mehrere Ärzte — meist ohne Absprache — an demselben Leiden eines Patienten herum.

Die Pläne des CSU-Politikers Horst Seehofer bei niedergelassenen ÄrztInnen gehen in drei Richtungen.

I.Ab 1999 will er die Kassenzulassungen drastisch einschränken — was zugleich bedeutet, daß bis dahin die Zahl weiterwachsen wird. Ein Signal vor allem an MedizinstudentInnen in niedrigen Semestern, das kurzfristig nichts ändern wird.

II.Seehofer will die Honorare der ÄrztInnen an die Grundlöhne koppeln. Doch die als Einsparung deklarierte Maßnahme wird lediglich zu geringerem Einkommenszuwachs und keineswegs zu Verlusten der ÄrztInnen führen. Rund 1,25 Milliarden Mark mehr als in diesem Jahr werden die Krankenkassen 1993 an die ÄrztInnen überweisen.

III.Wer über dem Schnitt verordnet, soll mit Honorarkürzungen bestraft werden. Kleinere Facharztkreise indes haben bereits vorgemacht, wie man das umgeht: Mit Absprachen, immer kurz unter dem Limit zu verschreiben, haben sie den Verordnungsdurchschnitt — und damit die Berechnungsgrundlage — stetig in die Höhe geschraubt.

Die PatientInnen. Rudolf Radtke* leidet seit Monaten unter starken Rückenschmerzen, bereits fünf Ärzte hat er aufgesucht. Seine Salben und Tabletten liegen fast unbenutzt in der Schublade; die Angst vor Nebenwirkungen hat ihn abgeschreckt. Radtke erhofft sich jetzt Hilfe vom alternativen Berliner Gesundheitsladen. Eberhard Göbel, der dort als Berater arbeitet, sagt, die PatientInnen seien in den letzten Jahren kritischer geworden, weshalb die Kranken immer öfter verschiedene ÄrztInnen aufsuchten. „Eine Verteuerung ohne Effekt“, sagt Göbel.

Kritische ÄrztInnen berichten hingegen, die Mehrzahl ihrer PatientInnen verlange nach wie vor Rezepte und sei, ebenso wie die Behandelnden, gerätefixiert. Die Hoffnung bei unklaren Diagnosen, durch aufwendige Untersuchungen doch noch zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, treibt sie nicht nur in die bestausgestattetsten Praxen, sondern häufig auch zu mehreren ÄrztInnen. Tatsächlich ist die Zahl der Krankenscheine seit 1970 um 70 Prozent gestiegen.

Die Gesundheitsreform beschränkt die Forderung nach Selbstverantwortung der PatientInnen auf ihr Portemonnaie. Drei bis zehn Mark müssen demnächst für jede verschriebene Packung Tabletten und Tropfen über den Apothekentresen geschoben werden — auch für die bisher zuzahlungsfreien Festpreismedikamente. Beim Zahnersatz sollen die Kassen nur noch für „Regelleistungen“ aufkommen. „Das ist die Versorgung, die man medizinisch für sinnvoll hält, ohne daß medizinische Verfeinerungen angewandt werden“, wie der Sprecher des Gesundheitsministeriums vage formuliert. Für noch nicht näher definierte „Wahlleistungen“, worunter aber kiefernorthopädische Eingriffe bei Erwachsenen fallen sollen, können die PatientInnen eine private Zusatzversicherung abschließen, an deren Finanzierung die Arbeitgeber nicht beteiligt sind. Ein weiterer Zugriff aufs Konto der Kranken findet im Krankenhaus statt: Pro Liegetag müssen sie elf Mark blechen.

Wer auf Medikamente angewiesen ist, wird auch die Selbstbeteiligung berappen. Auch den Zuschuß zu den Krankenhauskosten können die Kranken nicht verweigern. Seehofer wird dadurch tatsächlich einsparen können. Doch bereits Blüms Reform hat gezeigt, daß trotz Selbstbeteiligung die Gesamtkosten gestiegen sind.

Die Vorschläge von Seehofer spalten die KassenpatientInnen in zwei Klassen. Wer es sich leisten kann, wird eine private Zusatzversicherung abschließen und auch künftig angemessen behandelt werden. Die ärmeren BürgerInnen dagegen können sich eine weitere Versicherung nicht leisten. Zwar hat Seehofer eine Härtefallregelung angekündigt, wonach alle Westdeutschen mit weniger als 1.400 Mark und alle Ostdeutschen mit weniger als 840 Mark Bruttoeinkommen von den Zuzahlungen befreit werden sollen. Die Erfahrung aber zeigt, daß gerade alte Menschen das Sozialamt scheuen.

Die Krankenkassen. Eine glückliche Familie bei einer Fahrradtour unter blühenden Apfelbäumen: sie alle lächeln auf einer Hochglanzbroschüre und werben für die Betriebs- und Ersatzkassen. Mit Erfolg. Denn wer bei ihnen aufgenommen wird, muß oft nur acht Prozent seines Bruttolohns zahlen. Bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse — sie ist verpflichtet, jeden aufzunehmen — sammeln sich hingegen die weniger Betuchten, so daß etwa bei der AOK/ Kiel der Beitragssatz derzeit bei über 15 Prozent liegt.

An dieser Struktur will Minister Seehofer in nächster Zeit nichts ändern, obwohl die ärmeren Kassen seit Jahren Ausgleichszahlungen fordern, um der fortschreitenden Auszehrung entgegenzutreten. Denn wer immer in einer besseren Kasse aufgenommen wird, kehrt der AOK den Rücken — das Solidarprinzip funktioniert längst nicht mehr.

Die Krankenhäuser. Frauke Schmidt* lebt in einer westdeutschen Kleinstadt und hat akute Leukämie. Zur Behandlung muß sie jedesmal 150 Kilometer zu einer Uniklinik fahren. In ihrer Nähe ist kein Krankenhaus bereit, sie zu behandeln — und das, obwohl prinzipiell jeder Arzt therapieren könnte.

Ursache für Schmidts Zwangsreisen ist das Abrechnungssystem der Krankenhäuser. Die einzelnen Kliniken handeln mit den Kassen einen Tagessatz aus, den sie für jeden Tag und Patienten bekommen. Besonders teure Therapien wie etwa die Behandlung akuter Leukämie lehnen sie ab, weil sie ihnen genausoviel Einnahmen beschert wie die Versorgung eines Patienten, der keine Medikamente braucht. Beim Selbstkostendeckungsprinzip werden die Gesamtkosten — auch für die Verwaltung — als Berechnungsgrundlage für den Tagessatz angelegt. Die Krankenkassen sind gesetzlich verpflichtet, die Kosten zu übernehmen. Es gibt daher bislang keinen Anreiz, wirtschaftlich zu arbeiten.

Seehofer will das jetzt ändern. Ab 1993 soll das Selbstkostendeckungsprinzip aufgehoben werden. Erst zwei Jahre später aber will er die Tagessatzpauschale kippen und durch Fall-Pauschalen ersetzen, so daß dann beispielsweise die Operation eines Blinddarms die Krankenkassen einen Fixpreis kostet. Für Frauke Schmidt wäre das von Vorteil. Die Gefahr aber besteht, daß die heute noch gern gesehenen „billigen“ PatientInnen dann kein Krankenlager mehr finden.

Die Pharma-Industrie. „Wenn ich sie nicht rausschmeiße, steht jeden Tag ein Pharmavertreter bei mir auf der Matte“, sagt ein Berliner Arzt. 10.000 PropagandistInnen schwärmen durch das Bundesgebiet, um die Ärzte von größeren Packungen zu überzeugen. Ein Anliegen sind ihnen auch die nicht an feste Preise gebundenen Präparate. Trotz Blüms Gesundheitsreform konnten die Pharmamultis letztes Jahr in Deutschland rund 30,9 Milliarden Mark umsetzen — eine Verkaufssteigerung um rund zehn Prozent.

Festpreise war das Zauberwort, mit dem Norbert Blüm vor vier Jahren die Arzneimittelpreise im Zaum halten wollte. Alle vergleichbaren Medikamente verschiedener Firmen sollten zum selben — niedrigsten — Preis abgegeben werden. Bisher sind rund 40 Prozent der Medikamente festpreisgebunden; bei den anderen Produkten haben die Tablettenhersteller dafür eifrig aufgeschlagen.

Für dieses Jahr schlägt Seehofer einen freiwilligen Preisabschlag von fünf Prozent vor. Anderenfalls droht er für 1993 Preissenkungen an. 1,1 Milliarden Mark will er auf diese Weise einsparen.

Daß die Pharma-Industrie durch Seehofers Pläne tatsächlich Einkommenseinbußen wird hinnehmen müssen, ist unwahrscheinlich. Sie wird nicht nur weiter das Bundesgesundheitsamt mit angeblich neuen Medikamenten überschwemmen. Sie freut sich auch über die künftige Selbstbeteiligung der PatientInnen an Festbetragsprodukten, was deren Attraktivität mindert. Und der Bundesverband der Pharma-Industrie droht schon jetzt: „Nach zweieinhalb Jahren Preisstopp werden wir 1995 einen Nachholbedarf haben.“

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