: Die Stadt auf dem Laboratoriumstisch
„Retroaktive Strategien statt Design“ — eine theoretische Architektur der Metropole. Zum Eintreffen des kaltblütigen Operateurs Rem Koolhaas ■ Von Martin Kieren
Es gibt eine Haltung gegenüber Architektur und Städtebau, die allein auf das resignative Moment setzt: als Strategien des Rückzugs, die sich der Themen Rückbau, Entsiedelung der Städte, Dezentralisierung, Besinnung auf „ökologische“ Baustoffe annnehmen. „Desurbanistische“ Strategien, mit denen seit dem 19.Jahrhundert immer wieder operiert wurde — sei es von national-konservativer Seite, weil man in den Städten die Geburtsstätte der Dekadenz und also auch den Verfall aller Werte auszumachen meinte; oder aber von linker Seite, wo man der Theorie des materiellen Gegensatzes von Stadt und Land bei Marx und Engels frönte —, eines Gegensatzes, den man mit dezentralisierter Siedlungsweise zu überwinden können glaubte (die „Desurbanisten“ in der UdSSR in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre um den Soziologen M.Ochitowitsch). Das realisierte städtisch- siedlungstechnische und baulich- formale Ergebnis beider Denkformen wäre — zu Ende gedacht und -ausgeführt — immer eine bizarr-ungemütliche bis gefährliche Mischung aus Heimattümelei, Kitsch, tatsächlicher Zersiedelung und Strukturzerstörung des Landes — und eben einer Verarmung städtischer und urbaner Kultur, wie sie sich durchaus ereignet hat.
Nun muß man nicht immer gleich allen Gegnern dieser Strategien zustimmen. Es lohnt sich, Planern und Architekten aufmerksam zu folgen, von sich aus ein Bild der zeitgenössischen, modernen und sich in einem Transformationsprozeß befindlichen Stadt entwerfen, dieses Bild zumindest zu denken versuchen. Und sei es nur ein theoretisches Bild, ein aus der Beobachtung der Kultur und der Formen heraus gedachtes Abbild, so wie es 1978 der damals erst 34jährige holländische Architekt Rem Koolhaas mit der Veröffentlichung eines mittlerweile legendären Buches tat: Delirious New York: A Retroactive Manifesto for Manhattan. Das Buch, dieses Manifest, über das in Fachkreisen fast andächtig gesprochen wird, ist seit langem vergriffen, wird antiquarisch hoch — wie eine Inkunabel — gehandelt und ist eigenartigerweise nie ins Deutsche übersetzt worden.
„Ein höchst ungewöhnliches Werk, in dem die Geschichte eines ,theoretischen‘ Manhattan erzählt und gleichzeitig ein Verfahren zur Erforschung von Architektur und Städtebau vorgelegt wird, ein Plan für eine ,Kultur der Verdichtung‘, in dem die systematische Ausnutzung der Dichte als eine wesentliche Größe unter den Bedinungen für eine funktionsfähige Großstadt von heute erkannt wird.“ Soweit Jacques Lucan zu Delirious New York. Lucan ist Herausgeber des sehr zu empfehlenden Buchs OMA. Rem Koolhaas. Hinter dem Kürzel OMA verbirgt sich das „Office for Metropolitan Architecture“, das Rem Koolhaas Ende 1975 gemeinsam mit Elia Zenghelis und den Malerinnen Zoe Zenghelis und Madelon Vriesendorp gründete.
In diesem nicht rein als Architekturbüro zu begreifenden Zusammenschluß von Architekten und Planern — es existierten lange Zeit neben dem Hauptsitz in Rotterdam „Zweigstellen“ in London und Athen mit jeweils -zig Angestellten und Mitarbeitern — wird die zeitgenössische Ausdrucksform für die zeitgenössische Stadt gesucht. Gemeint ist aber nicht ausschließlich die Fassade, das Einzelgebäude in seiner Erscheinungsform, sondern vielmehr das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Kultur, Aktion und vielerlei anderen komplizierten Prozessen, die die „Form“ bilden, ihr das jeweils typische Gepräge verleihen, ihr den letzten und somit festen Ausdruck gibt. Die Stadt als gewachsenes kulturelles und formales Gebilde wird dabei nie in Frage gestellt — man sucht eher nach den Krebsgeschwüren, in die man kaltblütig die Skalpelle senkt. Analyse, Diagnose, Operation — mehr nicht, aber auch nicht weniger. Das Arbeitsfeld des OMA erstreckt sich dabei ebenso auf den Versuch der Bewältigung philosophischer und soziologischer, wie auf den kultureller und architekturimmanenter Probleme. Man sucht gewissermaßen nach dem Gehalt der Idee der zeitgenössischen Lebensformen, nach der den europäischen Ländern gemeinsam anhaftenden kulturellen Identität (bezogen auf die Stadt, auf Urbanität); — um darauf aufbauend eine These der internationalen Kultur zu entwickeln, die sich — in ihren Bau- und städtebaulichen Projekten und Aufträgen wiederfinden soll. Das scheint kompliziert und irgendwie unbefriedigend angesichts vielfach erörteter Probleme der europäischen Stadt — bezeichnet aber doch in etwa die Konzeption des OMA und seines Haupt- und Vordenkers Rem Koolhaas.
Diese Konzeption hat etwas Unerbittliches: Sie ist nie sentimental gegenüber alter Bausubstanz oder überkommener Stilvielfalt, ist immer an manifestartige literarische Statements gebunden (dabei offen, nie doktrinär theoretisch); sie ist unbedingt modern und trägt immer kontextualistische Züge. Schon bei den ersten Projekten, die Zenghelis und Koolhaas im großstädtischen Chaos von Manhattan ausarbeiteten, zeigt sich diese Art Radikalität: Die Strukturen und Texturen des vorgefundenen Kontextes werden analysiert und ihre Merkmale mittels gestalterischer Phantasie auf die Spitze getrieben. Zu diesen Merkmalen — nicht nur Manhattans — gehört die „Dichte“, die eine große Anzahl von Menschen auf einem bestimmten Raum ebenso meint wie die Dichte der dazugehörigen Infrastruktur und die der „aktiven“ Möglichkeiten der hier Wohnenden oder Arbeitenden. An dem vorgefundenen Muster Großstadt, oder an dem, was diese Großstadt sonst noch auszumachen scheint, wird also mit kalter Nadel weitergestrickt. In dieser Großstadt, in diesen Zentren des heillosen Durcheinanders der Welt, werden Erregungszustände getestet, Untiefen ausgelotet und werden neue Apparaturen — in Form architektonischer Projekte — erprobt, verworfen und in Besitz genommen.
Das entsprechende Werkzeug, das sich Koolhaas früh zurechtlegte, war der Operations-Begriff der „Retro-Aktion“, wie er ja auch schon im Titel zuDelirious New York, als „Retroactive Manifesto“, auftaucht. Mit dieser „retroaktiven Schere“, wie Jean-Louis Cohen dieses Denk- und Arbeitsinstrument in seinem einleitenden Essay treffend benennt, wildert Koolhaas sich durch die moderne Architekturgeschichte, wobei in den Anfangsjahren die Leitbilder im „Neuen Bauen“ Deutschlands und im „Konstruktivismus“ der jungen UdSSR zu finden sind. Das retroaktive Prinzip meint aber mitnichten die manieristische Aneignung und Verwendung von allerlei offenliegenden Stilmerkmalen (querliegende Fensterbänder à la Le Corbusier, monumentalisierende Proportionen à la Ledoux und Maschinenästhetizismus à la Vesnin/Tatlin), wie es die Vertreter der Postmoderne so gern taten, sondern es zielt eher auf die Offenlegung der strukturierenden Merkmale des Vorgehens dieser „Moderne“, auf deren Strategien und Strukturmerkmale des Verhaltens in der Zeit.
Der Analyseprozeß hat bei diesem Vorgehen naturgemäß meist großen Anteil an den Projekten: dem Verstehen wird immer die Erläuterung zur Hand gegeben, die Theorie. Diese will aber nicht die Dinge, Zustände und Formen endlich definieren, sondern im Zweifelsfalle so offen bleiben, daß auch das Gegenteil des Erarbeiteten möglich scheint. Dieses Prinzip läßt sich fast nur mit neugieriger Laboratoriumsarbeit vergleichen und ist auch darin — gleich den Künstlern der russischen Avantgarde, die sich auch des „Laboratorium“-Begriffs bedienten — bedingungslos experimentierfreudig und ohne Kompromisse an herrschende Geschmacksfragen. Als nächstes größeres Projekt wird in Karlsruhe bei Fertigstellung das Zentrum für Kunst und Medientechnologie unter diesen Aspekten in Augenschein genommen werden können.
Jacques Lucan: OMA. Rem Koolhaas. Mit Texten von Jean-Louis Cohen, Hubert Damisch und Jacques Lucan, 180 Seiten, zahlreiche, teils farbige Abbildungen, Verlag für Architektur, Zürich/ München 1991, 98DM.
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