: Denk- und Handlungsfaulheit
■ betr.: "Vor einer neuen deutschen Hysterie" (Die "politische Massenbewegung Ost" und das Verfassungsreferendum in Brandenburg), Kommentar von Christian Semmler, "Nicht links, nicht rechts...", taz vom 16.6.92
betr.: „Vor einer neuen deutschen Hysterie“ (Die „politische Massenbewegung Ost“ und das Verfassungsreferendum in Brandenburg), Kommentar von Christian Semler, „Nicht links, nicht rechts, sondern Ost“ (Tagesthema),
taz vom 16.6.92
Kann jemand gleichzeitig aus dem „Früher“ und aus dem „Morgen“ kommen? Die BürgerrechtlerInnen kommen auch alle aus dem „Früher“, und doch galt ihr Bestreben dem „Morgen“. Allerdings nicht dem satt-zufriedenen, in welchem sich BundesbürgerInnen (auch linke) gemütlich eingerichtet haben.
Ich habe weniger Probleme mit Leuten aus dem Westen, die der Gesellschaft und der sie vertretenden Politik kritisch gegenüberstehen, als mit Menschen aus dem Osten, die, wie weiland in der DDR, vom Staat alles erwarten, selbst aber nichts dafür getan haben. Sie vertreten ein ebenso unsoziales Anspruchsdenken wie die Leute im Westen, auf die sie lautstark schimpfen. Das Grundübel in Gesamtdeutschland ist für mich die Denk- und demzufolge Handlungsfaulheit. Populisten wie Diestel wissen dieses Defizit geschickt zu nutzen. Wir brauchen keine „Ostpartei“, sondern wirkliche Demokratie, wie sie mit der Brandenburger Verfassung angestrebt wird. Worum Bürgerinitiativen und Umweltverbände im Westen seit Jahren kämpfen, tatsächliche Mitbestimmung und das Mitwirken an (über)lebenswichtigen Entscheidungsprozessen, das hatten auch die BürgerrechtlerInnen in der ehemaligen DDR im Sinn, als sie von einem besseren „Morgen“ sprachen.
Handeln hat auch immer etwas mit Denken zu tun, doch das ist den Menschen im Westen systematisch aberzogen worden. (Für die Mehrheit denkt heute TED oder das Werbe-TV.) Es ist doch auch im Westen nur eine Minderheit, die ihr Gesellschaftssystem kritisch sieht. Es hat zwar ein paar kleine Fehler — die ins soziale Abseits Gedrängten, die Wohnungsnot, die Spekulanten, das organisierte Verbrechen etc. —, ansonsten ist es doch o.k.
Die Diskrepanz zwischen Ost und West ist nicht so sehr der Herkunft geschuldet, als der Denkungsart, die jemand hat. Kritik, die nicht geäußert werden darf, oder Kritik, die folgenlos bleibt (s. Parteispendenskandal), hat die gleiche Wirkung — sie stumpft das Denken ab und verkehrt sich so ins Gegenteil. Sie führt zum Angepaßtsein an das jeweilige System. Und das ist das Eigentliche, was ich den Westdeutschen zum Vorwurf mache, daß sie trotz (angeblicher) demokratischer Freiheiten bis zur Unkenntlichkeit an das System angepaßt sind. Kritik ist nicht gefragt — erst kommt das Fressen, dann die Moral!
Das Dilemma besteht darin, daß die Westdeutschen meinen, sie könnten den Osten kraft ihrer Bevölkerungsmehrheit beherrschen. Sie wollen (bis jetzt) nicht begreifen, daß das nur zur gesamtgesellschaftlichen Katastrophe führen kann. Kritik am System und Zivilcourage sind im Westen ebenso mangelhaft ausgeprägt, wie sie es im Osten waren. Wir brauchen deshalb auch keine Besitzstandsneid-Ostpartei, sondern das Besinnen auf die Tugenden des kritischen Denkens. Ich halte die gegenseitigen Schuldzuweisungen für kontraproduktiv. Wer besser oder schlechter ist, kann nicht die Frage sein. Nur im Gespräch miteinander können wir auch voneinander lernen. Oder wollen wir weiter zusehen, wie Politik, Kirche, Wirtschaft immer stärker mit Gesetzen und Verordnungen gegen das Volk aufrüsten, um es noch besser unter Kontrolle zu haben? Renate Helling, Ost-Berlin
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