: Spätlese: Auslegware/Osten I/Osten II/Früh aufstehen
■ John McCrone/Slavenka Drakulic/Ilona Maschler/Luigi Pintor
Auslegware
Die WissenschaftlerInnen der USA üben sich früh in Verständlichkeit; diese Erziehung schon an den Universitäten hat zweierlei Folgen: das geisteswissenschaftlich interessierte Laienpublikum wird in schöner Regelmäßigkeit mit wortreichen, recht soliden, aber letztlich wenig aufregenden Biographien großer Denker beglückt (das hier ebenfalls besprochene Lebens- und Werkbild Ludwig Wittgensteins befindet sich in dieser Tradition auf dem allerhöchsten Niveau); den mehr an Naturwissenschaft und Technik Orientierten beschert die dortige Öffentlichkeit gute naturwissenschaftliche Zeitschriften (wie 'Science‘ und 'Nature‘), konjunkturell beheizbare Themen (wie die schwarzen Löcher und das menschliche Genom) und bebrillte Stars (wie Stephen Hawkings und Martin Gardner). Hat auch die Fütterung mit populärwissenschaftlichen Inhalten dem Vernehmen nach an gewissen Eigentümlichkeiten des Aberglaubens in den USA (im Mormonenstaate beispielsweise anzutreffen) wenig geändert, wird sie hier doch gerne fortgesetzt — und solange unsere Universitäten sich weigern, der Vermittlung und Verständlichkeit ihres Tuns überhaupt eine gewisse Beachtung zu schenken und ihre AbsolventInnen mit der deutschen Grammatik vertraut zu machen, begrüßen wir die rege Übersetzungstätigkeit deutscher Verlage durchaus.
Ein schönes Beispiel für die pädagogisch wirksame Erläuterung eines wesentlichen Gedankens bietet das eben auf deutsch erschienene Buch Als der Affe sprechen lernte, in dem der Fachjournalist John McCrone nachweist, daß die Art unseres Denkens und die Grundfesten unserer Logik fundamental von der menschlichen Sprache abhängen und aus ihr entwickelt sind. Was klingt wie ein Nullsatz, dem niemand widersprechen würde, beweist seine Bedeutung im Detail: so hat die Tatsache, daß wir sprechen, also die Worte nacheinander bilden und ausstoßen (statt beispielsweise zugleich mit Handbewegungen, Mimik und den Beinen gleichwertige Zeichen zu geben), uns demnach in einer zweidimensionalen Ordnung verständigen, radikale Folgen für unser Begreifen der Welt: „Die Grammatik beruht auf der grundsätzlichen Annahme, daß es eine aktive Person im Zentrum des Geschehens gibt, die etwas mit den Dingen ihrer Umwelt macht. Die Logik einer solchen Grammatik... ist perfekt darauf abgestimmt, Vorstellungen des alltäglichen Lebens auszudrücken.“ Die Evolution beispielsweise ist ein Sachverhalt, dem mit dieser Logik, dieser Grammatik nicht beizukommen ist — was ein Grund mehr dafür sein mag, daß kleine, abgelegene Gemeinwesen in Gallien und anderswo noch immer mit Darwin ihre Schwierigkeiten haben. McCrone hat die Auslegware im Kopf, auf der wir denkend entlanggehen, hervorragend beschrieben — nicht in jeder Verknüpfung, aber in denen, auf die es ankommt.
John McCrone: Als der Affe sprechen lernte. Die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. Aus dem Englischen von Doris Gerstner. Wolfgang Krüger Verlag, gebunden, 301 Seiten, 36 DM.
Osten I
Literatur aus und über Osteuropa nimmt im Buchmarkt derzeit einen mächtigen Platz ein; die angenehmen Schauder geläuterter Altkommunisten bei der Lektüre verdrängter Realität mögen eine Rolle dabei spielen wie die Rechthaberei der Antikommunisten seit jeher. Glücklicherweise fragt ein Buch nicht danach, warum es gelesen wird, und wenn der osteuropäischen Literatur durch den dunklen Kanal des schlechten Gewissens der Eingang ins westeuropäische Hirn ermöglicht wird, ist ihr immerhin gelungen, wonach die Literatur der sogenannten Dritten Welt noch immer vergeblich strebt.
Freilich wird weniger Literatur gelesen als jenes Genre, das geringere intellektuelle Anstrengung zu erfordern scheint: Reisen bildet, mit Erfahrungsbüchern ist die Reise am schnellsten zu erledigen; nach dieser Gleichung wird verlegt, gekauft und gelesen, daß es eine Art hat. Ein Beispiel für die schnelle, dabei nicht ungute Version der Reise nach Osteuropa bietet Slavenka Drakulić Geschichtensammlung Wie wir den Kommunismus überstanden — und dennoch lachten: Berichte aus dem Alltag von Frauen in Moskau, Warschau, Zagreb, Prag und Budapest von einer Journalistin, die selbst — als alleinerziehende Mutter, berufstätige Frau, oppositionelle Intellektuelle — uns typisch erscheinende biographische Merkmale der osteuroäischen gebildeten Frau verkörpert.
Das mir wesentlichste Merkmal ihrer Erzählungen ist allerdings ein anderes, das nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich relevant ist und die falsche Dichotomie von Inhalt und Form ganz beiläufig erledigt: der Humor.
Drakulić ist keine ernste Heldin und gibt nicht vor, eine zu sein. Wie Viktoria Tokarewa, die lakonische Erzählerin aus Moskau, ist sie allerdings der Ansicht, der von Repression, Willkür, Mangel und Behördenstumpfsinn bestimmte Alltag sei nur zu erledigen (ohne selbst erledigt zu werden), wenn die Randfigur der Geschichte, die Frau, die Pointe der Großen Erzählung notfalls selbst erfindet; darin dem karibischen Sklaven gleich, der mit der verhunzten Form seines Französisch, dem Kreolischen, den Herrn unangreifbar und infantil zugleich veralbert. So sind es nicht die aufschlußreichen Anekdoten, die von diesem Buch in Erinnerung bleiben, auch nicht die Mitteilungen fehlgeschlagener, in Mutlosigkeit endender Lebensläufe, die „typischer“ sind als der von Slavenka Drakulić — es ist dieser Humor, der eine Tapferkeit herausbildet, die belebend ist. Wenn wir es jemals schaffen sollten, eine multikulturelle Gesellschaft herauszubilden, die das Beiwort „zivil“ verdient, wird diese vornehmlich weibliche Haltung, mehr als die ernsten Mienen verdienter Funktionäre, den entscheidenden Anteil daran haben. Improvisation, aus Notwehr entwickelt, bleibt anschließend Kompetenz. Da Frauen mehr improvisieren müssen, weil diese Gabe den Machtlosen allein das Überleben sichert, liegt der historische Vorteil bei ihnen. Jede Ahnung und Statistik spricht dafür, daß sie ihn weiterhin werden nutzen müssen.
Slavenka Drakulić: Wie wir den Kommunismus überstanden — und dennoch lachten . Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff (Der Verlag macht lediglich die aufschlußreiche Mitteilung, daß Ulrike Bischoff das Buch ins Deutsche übertragen habe, was sich unschwer erkennen läßt. Das Buch erschien offenbar erstmals in Englisch, mit Copyright aus dem Jahre 1990.) Rowohlt Berlin Verlag, 188 Seiten, 29.80 DM.
Osten II
Erfahrungsliteratur dichterer und dramatischerer Art ist der Lebensbericht von Ilona Maschler, die heute in Israel lebt. Die junge Frau, mit einem Arzt verheiratete Rechtsanwältin, hat das Pech, das Jahr 1939 wie die folgenden in Polen zu verbringen, wo sie geboren wurde. Zu diesem Pech kommt das zweite, mit einem Juden verheiratet zu sein. Diese beiden Nachteile wiegen den Klassenvorteil — die beiden leben mit ihrer Familie in der kultiviert-begüterten Oberschicht in Nowy Sacz — nicht auf: vor der beneidenswerten Wahl, entweder den antisemitischen Nationalsozialisten oder aber den bourgeoisiefeindlichen Sowjetmenschen in die wenig zärtlichen Arme zu laufen, entscheiden sich Ilona Maschler und ihr Mann vernünftigerweise für die zweite Möglichkeit, fliehen bei Nacht ohne Nebel und ohne Silberbesteck und verzichten damit auf den Klassenvorteil.
Am dritten Hochzeitstag der jungen Frau wurde der drohende Krieg diskutiert — zu einem Zeitpunkt, da die Teilung Polens mit ihren Konsequenzen noch unabsehbar war. Sicher schien ihr nur eins — daß ihr Mann als Jude den deutschen Überfall nicht überleben würde. Ilona Maschler war damit hellsichtiger als viele ihrer Bekannten, und diese Hellsicht rettete ihr immerhin das Leben. Die Beschreibung ihres Überlebens im Ostteil Polens gehört zum Eindrücklichsten im Bereich der Erfahrungsliteratur, was ich jemals gelesen habe: weil sie keinen Hehl daraus macht, wer und was ihr genutzt und geschadet hat; weil sie mit Genauigkeit und Schärfe die willkürliche Zerstörung und die systematische Ausrottung einer Lebenswelt berichtet, die den Namen „osteuropäische Kultur“ allein verdient hätte, als es ihn noch nicht gab; weil sie ohne jede Ideologie zeigt, daß es für die Zerstörung dieser Kultur vollkommen gleichgültig war, ob sie unter dem Vormarsch der Nazis oder dem des sozialistischen Brudervolkes stattfand; weil sie offenbar keinen Widersinn, keine Idiotie und keine Grausamkeit vergessen hat; weil sie trotzdem sich an jede Geste erinnert, die lindern und doch kurz vergessen machen konnte — und schließlich, weil sie dies alles beiläufig geltend macht, mit einem präzisen, souveränen, oft sardonischen Humor, der sie als Opfer von der Definition des Opfers trennt.
Moskauer Zeit heißen ihre Erinnerungen nach dem noch harmlosesten Aberwitz, den sie berichtet: „Ich stehe schon um vier Uhr morgens Moskauer Zeit auf, also tatsächlich um zwei Uhr nachts. Die Moskauer Zeit wurde auf dem Gebiet des östlichen Kleinpolens, das jetzt Westliche Ukraine heiß, eingeführt, damit die Lwöwer Bourgeois nicht noch süß schlafen können, wenn die Moskauer schon nach Brot anstehen. Gleichheit für alle. Nur die Hähne passen sich dieser unnatürlichen Zeitangleichung nicht an und krähen so begeistert nach der alten Zeit, daß die Federn fliegen. Die Nachwelt wird ihren passiven, dafür aber lauten Widerstand gegen den östlichen Befreier zu würdigen wissen.“
Ilona Maschler berichtet von einem Untergang in Barbarei und Willkür, in Schrecken und bürokratischem Elend, über den wir fast nichts wissen, weil kaum jemand mehr davon berichten kann. Sie berichtet so, daß man die Erzählung nicht liest, weil man sie lesen sollte oder kann — aus Interesse an Geschichte, aus Schuldgefühl, aus verspäteter Reflexion — sondern weil man nicht aufhören kann zu lesen.
Es gibt nicht viele Bücher, die wirklich notwendig sind. Hier ist eins.
Ilona Maschler: Moskauer Zeit. Erinnerungen. Aus dem Polnischen von M. Peschler-Czyszkowska. Steidl Verlag, gebunden, 260 Seiten, 38 DM.
Früh aufstehen
Es gibt Bücher, für die muß man früh aufstehen. Jetzt gerade beispielsweise probt ein Punk im Fenster gegenüber vor dem Fernseher mit Boxhandschuhen an den Fäusten einen geheimnisvollen rituellen Tanz (ich vermute, es geht trotz allem um Fußball, denn auf dem Bildschirm schlagen sich die Männerbeine), und die Mieterin der Wohnung über mir nutzt die Muße ihres Mannes, die Balkonblumen so ausgiebig zu gießen, daß auch meine Fensterbank keinen Durst nimmer mehr leiden muß. Aus der Behausung meines Unterbewohners hingegen dringt eine derart kompakte, konzentrierte Stille, daß die Vermutung ausgeschlossen ist, er würde sich aushäusig amüsieren: auch er ist jenem Spiel verfallen, das die Menschheit derzeit endgültiger teilt als alle Verhütungsfragen. Es ist also objektiv still, und dennoch nicht das rechte — nicht das rechte jedenfalls für ein Buch, das nicht nur akustische Stille beanspruchen darf für seine Lektüre, sondern darüber hinaus jene freischwebende Aufmerksamkeit, die den meisten Lesenden nur ganz früh morgens zu Gebote steht (wenn noch kein falsches Wort gefallen ist, kein Gedanke den Kopf okkupiert, keine Erinnerung ihn durchzogen hat. Wenn noch jene freundliche Indifferenz vorhanden ist, die wirkliches Lesen erst gestattet. Wenn der Mensch noch in der Lage ist, die Sätze durch Lektüre zu seinen eigenen zu machen).
Die Rede ist von Servabo, der Erzählung eines Lebens von Luigi Pintor. Der Mitarbeiter der kommunistischen italienischen Tageszeitung 'Unita‘, der Mitbegründer des unabhängigen linken 'Il Manifesto‘ erzählt sein Leben — allerdings so, daß es als das seine äußerlich nicht mehr erkennbar ist. Was er getan hat — als Widerstandskämpfer und Kommunist, als Politiker und Journalist, als Zeitungsgründer und unabhängiger Abgeordneter — spielt keine Rolle mehr. Was ihm zugestoßen ist — als Bruder eines Märtyrers der Widerstandsbewegung, als politisch unbequemer Genosse, als Mann einer sterbenden Frau — wird wie aus der Ferne zitiert, ungläubig und umsichtig und wortkarg geprüft. Was er gedacht hat, rinnt zusammen in diesen wenigen Seiten, aus denen das Buch besteht — scheinbar unbekümmert, sogar erleichtert um das, was verloren und vergessen ist.
Was bleibt? Es ist die Erfahrung des Krieges, die er als eine beschreibt, die sein Leben geprägt hat: die Erfahrung von Solidarität als einer unbedingten Regung gegen gemeinsame Ohnmacht, die selbstverständliche Preisgabe von Privilegien, die der Krieg mit der Kultur, aus der sie entstanden ist, zerstörte. „Schließlich sperrten sie mich“, erinnert sich der alte Mann an seine Gefangennahme durch die Faschisten, „zusammen mit einem alten, sehr mißtrauischen Maurer in ein kleines, verdrecktes Klosett. Der Mann hatte geschwollene Beine und fluchte vor sich hin, ohne mich anzusprechen. Obwohl ich ebenso zugerichtet war wie er, war ich wahrscheinlich zu jung und zu wohlerzogen, um sein Vertrauen zu verdienen. Aber dann änderte er seine Meinung, und am zweiten Tag wurde er sehr freundlich und sprach mir Mut zu. Diese Erfahrung habe ich nicht vergessen, und noch bevor ich es später in Büchern las, begriff ich damals, daß die Arbeiter die Welt befreien würden, indem sie sich selbst befreien.“
Es bleibt die Erfahrung der Sterblichkeit, die den Überlebenden des Krieges, den Überlebenden auch seines Bruders, viel später wieder einholt: „Es gibt im Leben nichts Wichtigeres, als sich hinabzubeugen, damit ein anderer die Hände um deinen Hals legen und sich wieder aufrichten kann.“ Es bleibt ein Text, der das Wesentliche zugleich benennt und zeigt, ein Buch, das in seiner Wortarmut souverän ist wie ein Gedicht. Es bleiben Sätze, die mit der Sprache selbst hadern, ohne zu kokettieren, die einfach und schlicht eingestehen, daß sie für das, worauf es ankommt, nicht zureichen können: der Überlebende zitiert, wie der Heldentod seines Bruders ihm berichtet wurde, damit er sich ein Bild machen könne. „Es war eine törichte Folge von Wörtern, die nicht im geringsten zum Bild meines Bruders passen wollten. Wer ihn kannte wie ich, konnte sich nicht unversehens eingestehen, daß er derart verwundbar war, daß er in dieser unnatürlichen Haltung dalag an diesem Ort, wie in einem Roman, Tag und Nacht reglos unter einem winterlichen Himmel und unerreichbar für jedes Wort. Niemals, selbst nach vielen Jahren nicht, habe ich dieses derart unwahrscheinliche Bild innerlich angenommen.“
Der Wagenbach Verlag hat diesen Text mit Anmerkungen und Fotos im Anhang versehen; eine hilfreiche Zugabe für das deutsche Publikum und bei der zweiten Lektüre aufschlußreich. Dennoch wird empfohlen, das Buch beim ersten Mal so zu lesen, wie es Literatur verdient — Wort für Wort, Satz für Satz und ohne die Suche nach Fakten. Und in den frühen Morgenstunden.
Luigi Pintor: Servabo. Erinnerung am Ende des Jahrhunderts . Aus dem Italienischen von Petra Kaiser und Michael Becker. Wagenbach Verlag, 113 Seiten, gebunden, mit Abbildungen und Anmerkungen, 19.80 DM.
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