: Wortgeklingel
■ betr.: "Bewußtes Lesen im Zentrum der Stadt?", taz vom 9.6.92
betr.: »‘Bewußtes Lesen‚ im Zentrum der Stadt?«,
taz vom 9.6.92
Inzwischen ist die Idee, im Palast der Republik die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB), die Berliner Stadtbibliothek und eventuell auch die Senatsbibliothek zusammenzufassen, durch sämtliche Medien gegangen. Der taz- Artikel tut sich allerdings durch seine geradezu andächtige Bewunderung dieses eigentlich ganz einfachen Gedankens hervor. Hier wird mit hochtrabenden Worten geklingelt, die uns, nachdem wir erst mal beeindruckt des Kaisers neue Kleider bewundert haben, rufen lassen: »Aber er hat ja gar nichts an!«
So ist zum Beispiel von der »Freiheit des Lesens« im Palast der Republik die Rede. Können unsere LeserInnen denn jetzt in der AGB nicht »frei« lesen? Natürlich gibt es Einschränkungen, zum Beispiel die langen Warteschlangen, die Tatsache, daß häufig das gewünschte Buch nicht vorhanden ist oder die stickige Luft in der Lesehalle, die »bewußtes Lesen« (kann man denn auch unbewußt lesen?) nicht zuläßt. Das hängt mit der finanziellen Not Berlins zusammen, die es zum Beispiel nicht gestattet, genügend Personal einzustellen oder die Luftumwälzanlage endlich zu erneuern!
Anstelle großer Worte tut hier eine nüchterne Abwägung der Vor- und Nachteile der »Palast-Lösung« für die beiden Bibliotheken not: Sowohl die Stadtbibliothek als auch die AGB benötigen dringend mehr Platz. Dieser ließe sich im Palast der Republik schaffen — oder auch in den ursprünglich geplanten Anbauten —, wobei unklar ist, welche Lösung weniger Kosten verursachen würde. So müßte der Palast der Republik erst asbestsaniert und für die Bedürfnisse einer Bibliothek umgebaut werden. Ein Nachteil wäre beispielsweise, daß der Palast der Republik aufgrund seiner großen Fläche überwiegend künstlich beleuchtet und belüftet werden müßte. Dazu kommt, daß zumindest die AGB jetzt sehr verkehrsgünstig liegt (im Schnittpunkt dreier U-Bahn- Linien), was man vom Palast der Republik nicht sagen kann.
[...] Das Problem der PolitikerInnen, wie man den mit SED-Machtansprüchen befrachteten Palast der Republik elegant in ein Denkmal für den freien Geist verwandelt, sollte nicht ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse der Bibliotheken und ihrer LeserInnen gelöst werden. [...] Constanze Müller, Personalratsvorsitzende
der AGB
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