: Passivität ist nicht besonders produktiv
■ betr.: "Kritik des Bundespräsidenten von Weizsäcker und die Idee einer Ostpartei von Diestel (CDU) und Gysi (PDS), LeserInnenbrief "Denk- und Handlungsfaulheit", taz vom 23.6.92
betr.: Kritik des Bundespräsidenten von Weizsäcker und die Idee einer Ostpartei von Diestel (CDU) und Gysi (PDS), LeserInnenbrief „Denk- und Handlungsfaulheit“ von Renate Helling,
taz vom 23.6.92
Notwendig war die Kritik des Bundespräsidenten, die zu einer höheren politischen Kultur verhelfen soll. Politische Kultur — keine Frage, daran mangelt es in der neuen Bundesrepublik. Doch sieht von Weizsäcker die Schuld, trotz (zum Beispiel) innerparteilicher Demokratiedefizite, nicht allein bei Parteien. Vielmehr reflektierten die Parteien die Schwächen der Gesellschaften. Als Beispiel für eine geistig-politisch-produktive Epoche nannte der Politiker in seinem 'Zeit‘-Gespräch die sechziger Jahre. „Da wirkten starke Kräfte und gute Köpfe der Gesellschaft auf die Parteien ein.“
Und die Gesellschaft heute? Die Menschen ziehen sich zunehmend aus der politischen Welt zurück, resignieren, schimpfen, die Politik und ihre Vertreterinnen und Vertreter verlieren zunehmend an Ansehen... Bei allem Verständnis, Passivität ist nicht besonders produktiv.
Bietet da nicht die Idee einer Ostpartei Perspektiven? Selbstverständlich, eine mögliche Ostpartei teilt die Gesellschaft erneut, kreiert neue Parteigrenzen, ist letztlich wenig dienlich. Warum aber nicht ein neues, bundesweites Bündnis der Basis der Gesellschaft? Ein Bündnis, das über Parteigrenzen und ehemalige Zonengrenzen reicht, ein Bündnis, das kreativ ist, ein Bündnis von Menschen, die ihre eigene Zukunft mitgestalten wollen, und das über Parteikäfige hinweg.
Insofern ist die Idee von Diestel und Gysi durchaus dienlich. Es muß wieder rumoren in der Gesellschaft. Die Menschen müssen wieder Engagement zeigen. Erst wenn die Politik-Oligarchie politisches Engagement bei den Menschen registriert, wird sie sich derer inhaltlich annehmen — und sei es nur, daß das Motiv Wiederwahl ist. Ansonsten werden sie, sollten sie nicht selbstkritischer werden, weiter auf ihren Bonner Wolken treiben und gar nicht merken, was sich da für ein innenpolitisches Gewitter zusammenbraut. Noch gehen viele Menschen einfach nicht zur Wahl, doch könnte daraus schon bald innenpolitischer Sprengstoff entstehen. Tobias Martin,
Wiesbaden-Sonneberg
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