Wirtschaftswachstum = Entwicklung?

■ betr.: "Ein neuer Marshallplan für Osteuropa?" von Kurt Hübner, taz vom 20.6.92

betr.: „Ein neuer Marshallplan für Osteuropa?“ von Kurt Hübner, taz vom 20.6.92

[...] Es ist immer wieder erstaunlich, wie in der Diskussion über die verschiedenen Entwicklungsstrategien und -möglichkeiten Osteuropas die mehr als 40jährige Erfahrung der Länder der sogenannten dritten Welt schlicht verdrängt wird: Mit den traditionellen Konzepten haben trotz zum Teil umfangreicher Finanzhilfe nur einige wenige Staaten Südostasiens ein über das Bevölkerungswachstum hinausgehendes Wirtschaftswachstum erreichen können.

Es bleibt festzustellen, daß die industrialisierten Staaten Nordamerikas, Westeuropas und Japan über die verschiedensten Mechanismen des von ihnen kontrollierten Weltmarktes bisher nur dann ein Wirtschaftswachstum außerhalb ihrer Regionen zugelassen haben, wenn es ihren eigenen Interessen diente. Die Industriestaaten sind in erster Linie an Absatzmärkten und Rohstoffen interessiert und angesichts einer weltweiten Rezession nicht am Aufbau zusätzlicher Konkurrenz, wie das Beispiel Ostdeutschland derzeit eindrucksvoll belegt.

Aber selbst wenn unter der Drohung einer osteuropäischen Wirtschaftsigration hier ein Sinneswandel stattgefunden haben sollte, verwundert mich jedesmal aufs neue die Naivität, mit der immer noch Wirtschaftswachstum mit Entwicklung gleichgesetzt wird: Aufgrund der Begrenztheit natürlicher Ressourcen an Rohstoffen und Energie sowie deren exzessiver Nutzung durch die Industriestaaten ist ein diesen ähnliches Wachstum völlig ausgeschlossen; dazu bedürfte es mehrerer Welten. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn die OECD-Staaten ihre Rüstungsausgaben kürzten, die Sparquote erhöhten, ihre Haushaltsmittel umschichteten oder sonstige finanzielle Anstrengungen unternähmen. Die globale Situation erlaubt keine weitere Verschwendung und Verschmutzung von Wasser und Luft durch ein an den Industriestaaten orientiertes Wachstumsmodell für die ärmeren Regionen der Welt; von den sozialen Kosten ganz zu schweigen. Ziel aller Überlegungen muß sein, wie weltweit und nicht beschränkt auf Osteuropa eine nachhaltige Entwicklung (sustainabel development) in sauberer Umwelt bei gerechter Einkommensverteilung (Tinbergen) erreicht werden kann. Darüber hätte ich Gedanken eines Professors für Politische Ökonomie erwartet. Gerd Schmücker, Hemmoor