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Für den Mythos unentbehrlich

Die Ukrainer wollen auf die Krim, die ihnen einst Chruschtschow zusprach, nicht verzichten/ Rußland indes erhebt Anspruch auf die Schwarzmeerhalbinsel mit ihren Traumstränden und Tausenden von Staatsdatschen  ■ VON ERHARD STÖLTING

Der Streit um die Krim hat die klassische Form der national-territorialen Auseinandersetzung: jede Seite hat recht und, falls eine jede auf ihrem Recht bestehen sollte, ein Blutbad ist unvermeidlich. Die russische Seite verweist auf die Zusammensetzung der 2,4 Millionen Menschen zählenden Krim-Bevölkerung: 1989 waren es 67 Prozent Russen, 26 Prozent Ukrainer, zwei Prozent Weißrussen, zwei Prozent Krimtataren. Doch deren Zahl steigt rasch an. Von überall her wandern sie zurück und leben zum Mißvergnügen der Einheimischen in provisorischen Wohnvierteln. Am liebsten hätten sie ihren eigenen Staat wieder, am zweitliebsten eine tolerante Oberhoheit. Gegen die russische Mehrheit stehen sie auf der Seite der ukrainischen Nationalbewegung „Ruch“.

Die Krim — ein Zielpunkt der Sehnsucht

Die russische Haltung ist nicht ganz so eindeutig, wie zu erwarten wäre. Ende November hatte der Oberste Sowjet der Krim zwar fast einstimmig für eine Loslösung von der Ukraine votiert; im Frühjahr 1992 folgte eine Unabhängigkeitsdeklaration, die vielleicht nicht einmal ihr Urheber ernst nahm. Dafür hatten im Dezember 1991 54 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt.

Daß die Krim überhaupt zur Ukraine gehört, verdankt sie dem ehemaligen KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow, der unter Stalin Parteichef der Ukraine gewesen war. Anläßlich der 300jährigen Zugehörigkeit der Ukraine zu Rußland ließ er die Krim von der RSFSR lösen und der Ukraine angliedern. Das russische Parlament hält diesen Schenkungsakt heute für illegal, das ukrainische hält ihn für korrekt. Für die Russen bedeutet das einen herben Verlust: Sie müssen verzichten auf Bodenschätze, das Anbaugebiet des Krim-Sekts, das wichtigste Feriengebiet, die wichtigste militärische Basis mit der legendären Hafenstadt Sewastopol, ein Stück lichtdurchfluteter Kulturgeschichte und einen Zielpunkt der Sehnsucht.

Die ersten Siedlungsspuren werden auf 100.000 Jahre zurückdatiert. In der geschriebenen Geschichte taucht die Krim im 7. Jahrhundert v. Chr. auf, als die Halbinsel von den Skythen erobert wird, die die Kimmerer — ein wahrscheinlich keltisches Volk — verdrängen. Über 1.000 Jahre lang ist die Krim Zentrum des Skytherreiches Taurien, auch wenn seit dem 5.Jahrhundert v.Chr. zunehmend griechische Kolonien entstehen. Seit dem 1. Jahrhundert v.Chr. untersteht die Krim Rom bis in die Zeit der Völkerwanderung, als die Goten ab 250 n.Chr. die Krim erobern. Wie ein sowjetischer Reiseführer von 1936 versichert, hinterlassen die Goten blauäugige Kinder im Dorf Kokkoz bei Ay- Petri bei Bachtschisaraj, der alten Hauptstadt des Krim-Chanates. Den Goten folgen Hunnen, Chasaren, Kiptschaken. 1237 wird die Krim von Mongolen Dschingis-Khans erobert und gehört dann zum Herrschaftsbereich der Goldenen Horde. Als deren Reich 1395 von Timur zerschlagen wird, machen sich die Tataren der Krim mit einem eigenen Chanat selbständig. Dieses Chanat wird 1477 dem osmanischen Reich tributpflichtig und bleibt bis zur russischen Annexion unter Katharina II. ein osmanischer Vorposten.

Die Krim — Stützpunkt einer großen Seemacht

Aus krimtatarischer Perspektive wohnen im Norden primitive Ungläubige, die sich auf Sklavenmärkten verkaufen lassen, und bei denen zuweilen nützliche — wenn auch nicht übermäßig kunstvolle — Dinge requiriert werden können. Eine gewisse Bedrohung stellen ihre unkultivierten despotischen Fürsten dar, gegen die zuweilen auch ein Bündnis mit dem Chan der Litauer nützlich ist. 1521 gelingt noch einmal ein Heerzug ins Innere des Moskowiterreiches. 1571 wird es möglich, Moskau, dessen hölzerne Hauptstadt, mitsamt seiner Götzentempel abzubrennen. Die Ausbeute an Sklaven ist beachtlich.

Die erstarkende russische Macht deutet die Situation anders. Das Krim-Chanat versperrt ihr den Zugang zum Schwarzen Meer und verunsichert den Süden der neugewonnenen Ukraine. Da die Krimtataren die osmanische Herrschaft über die Nordküste des Schwarzen Meeres sichern und immer wieder russische Kriegszüge gegen Konstantinopel stören, wird das Bemühen um eine Eroberung der Krim seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert Teil der russischen Türkeipolitik und Triebkraft des militärischen Aufbaus. Noch 1687 muß der Liebhaber der Regentin Sofija, Fürst Golizyn, 200 Kilometer vor dem Chanat umkehren. Die Russen waren unfähig, den Nachschub über große Entfernungen zu sichern. 1689 scheitert Golizyn aus dem gleichen Grund noch einmal. Nur für kurze Zeit ist Peter I. 1696 erfolgreicher. Er kann die eroberte osmanische Festung Asow nicht halten. Erst 1774 erreicht Rußland unter Katharina II. die dauerhafte Herrschaft über die Nordküste des Schwarzen Meeres und über die Steppen zwischen Dnepr und Bug. Das Krim-Chanat wird zunächst russisches Protektorat und dann, 1783, zur „Taurischen Provinz“: Das neu entstehende Gouvernement Neurußland (Noworossija), das vom südlichen Bessarabien über die ukrainischen Steppen bis zum Kuban reicht, überwindet seine Geschichtslosigkeit, indem es in den Ortsnamen eine fiktive Kontinuität zur griechischen Geschichte der Region herstellt.

Die Krim — ein Traum des reichen Rußland

Die Krim wird Stützpunkt einer wachsenden Seemacht. Das noch menschenleere aber fruchtbare Steppengebiet kann jetzt besiedelt werden. Ukrainische, russische und andere Siedler, die von der Regierung gerufen werden, verwandeln die heutige Südukraine in eine Kornkammer Rußlands. Aber auch die politischen Konstellationen verändern sich. Die bislang fortbestehenden Autonomien der Ukraine werden beseitigt. Die neu geschaffenen drei „kleinrussischen“ Gouvernements Kiew, Tschernigow und Nikolajew haben keine Sonderrechte. 1775 wird die unruhige und anarchistische Kosakenhochburg, die „Sitsch“ von Saporoschje, gewaltsam aufgelöst. Die ukrainischen Kosaken sind als Grenzkämpfer überflüssig geworden. Ein großer Teil von ihnen wandert ins Reich des osmanischen Erbfeindes aus.

Die Repression der Krimtataren unter Katharina ist weniger christlich-barbarisch als die der Wolgatataren unter Iwan dem Schrecklichen nach der Eroberung von Kasan. Immerhin werden auch auf der Krim russische, ukrainische, seit 1805 auch deutsche Bauern angesiedelt, während die Tataren zunehmend ins Innere der Halbinsel gedrängt werden. Ein großer Teil von ihnen wandert während des 19. Jahrhunderts in mehreren Wellen ins osmanische Reich aus. So werden die Tataren in ihrer Heimat zur diskriminierten Minderheit.

Gleichzeitig entstehen an den schönsten Plätzen Sommerresidenzen des Hochadels — Kurorte. Als die Zarenfamilie 1861 in Liwadia ihre Sommerfrische bezieht, ist die Krim schon längst der subtropische Traum des reichen und kulturellen Rußland. Sie ist zum mediterranen Winkel der sonst eher düsteren russischen Seele geworden. 1853 greifen England und Frankreich in einen neuerlichen Krieg auf der Seite der Osmanen ein und landen 1854 mit 60.000 Soldaten bei Sewastopol. Erst nach einer mehrmonatigen Belagerung gelingt ihnen die Eroberung der zerstörten Stadt. Die russischen Patrioten sind seit jeher stolz, so lange einer feindlichen Übermacht standgehalten zu haben. Sewastopol wurde Ort des nationalen Selbstkultes. Die Westmächte diktieren den Friedensvertrag.

Nach der Revolution von 1917 wechselt die Insel mehrfach den Besatzer. 1920 bringen englische Kriegsschiffe die Reste der Weißen Armee Wrangels von Sewastopol aus nach Istanbul. Es entsteht aus dem Taurischen Gouvernement eine Autonome Sowjetrepublik Krim, die sechs nationale Rayons umfaßt, darunter einen jüdischen (Frajdorf) und einen deutschen (Büyük Onlar). 42 Prozent der Bevölkerung sind Russen, 25 Prozent Tataren. Unter der Kollektivierung ab 1929 haben vor allen die deutschen Bauern zu leiden, die insgesamt unter dem Verdacht stehen, „Kulaken“ zu sein, weil sie durch Fleiß und Privilegien relativ wohlhabend geworden waren. Im Krieg hält Sewastopol noch einmal über 100 Tage einer fremden Beobachtung stand. Als die Krim 1944 durch die sowjetischen Truppen befreit wird, gibt es keine Juden und keine Deutschen mehr auf der Krim. Stalin ließ die Tataren unter großen Opfern nach Mittelasien umsiedeln.

Das einst großbürgerliche, aristokratische und künstlerische Ferienparadies war längst zu einem proletarischen geworden. Die alten Adelsresidenzen waren Ferienheime, deren Plätze in Murmansk, Karaganda oder Swerdlowsk begehrt waren. Bis vor kurzem kurten hier Werktätige, die ihren Traum verwirklichen konnten. Aber die Krim ist mehr als ein Ferientraum. Sie ist dem russischen Geschichtsmythos unentbehrlich. Ukrainische mythische Anknüpfungspunkte gibt es noch kaum. Die Ukraine könnte den Verlust gleichwohl nicht verschmerzen. Das von Katharina den Osmanen und Krimtataren abgenommene „Neurußland“ ist längst als unverzichtbares ukrainisches nationales Erbe definiert. Ganz unerträglich für das ukrainische Nationalbewußtsein wird eine russische Krim dann, wenn es das russische Reich als den historischen Feind schlechthin fixiert.

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