: »Zum Sozi geht doch keiner für nüscht«
■ In Schöneberg bleibt die Sozialhilfeberatung eine Woche im Monat geschlossen — um Rückstände aufzuarbeiten
Schöneberg. Sozialhilfeempfänger haben Zeit. Viel Zeit sogar. Schließlich arbeiten sie nicht und lassen sich vom Staat aushalten. Dafür können sie ruhig den einen oder anderen Vormittag in großer Gruppe vor den Türen mit den Schildern, auf denen das vielgefürchtete »Hilfe zum Lebensunterhalt« geschrieben steht, ausharren — teils auf Stühlen, teils auf dem Fußboden in einem ungelüfteten Flur.
Im Jugendamt Schöneberg ist dieses Szenario des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaates längst Realität geworden. Die Verwaltung der Armut im Bezirk hinkt und humpelt an allen Ecken und Enden. Um die Rückstände aufzuarbeiten, bleibt die Sozialhilfeberatung seit April in der zweiten Woche jeden Monats geschlossen. 1676 Akten werden dann beabeitet und aktualisiert — ein Viertel mehr als noch vor zwei Jahren. Hinter den Aktendeckeln verbergen sich alleinstehende Minderjährige, uneheliche Kinder sowie deren Mütter, die über das Jugendamt Sozialhilfe beziehen. Sie müssen warten.
»Es wird immer schlimmer«, erzählt eine entnervte Mutter. »Bis zu sechs Stunden habe ich hier schon gesessen«. Während sie Anträge ausfüllt und Löcher in die Luft starrt, macht ihr dreijähriger Sohn sich fortwährend selbständig — wenn er schnell ist, kommt er bis auf die Hauptstraße. Andere Mütter halten gleich drei ungeduldige Kinder in Schach. Zwischen den Beinen der Wartenden in den dunklen Gängen spielen sie, schlafen oder brüllen herum.
Auf der anderen Seite der Türen ist reichlich Platz. Zwei von drei Schreibtischen stehen leer. Von elf Sachbearbeitern, die für die 1.676 Fälle zuständig sind, sind zwei krank, drei im Urlaub, eine Stelle ist nicht besetzt, zwei Mitarbeiterinnen werden noch eingearbeitet. Macht drei volle Kräfte für bis zu 160 Beratungen an manchen Vormittagen. »Wie ein roter Faden« ziehe sich der Personalnotstand seit zwei Jahren durch die Beratung, erzählt Amtsleiter Klaus Mehnert. »Wir üben uns hier nur noch in Schadensbegrenzung«. Die Verantwortung für Regreßansprüche des Bezirksamtes bei der Auszahlung zu großer Summen hat er inzwischen schriftlich abgelehnt. »Fehler lassen sich nicht mehr vermeiden.«
Die Ursachen für den Notstand sind vielfältig. Die Personalzuweisung der Innenverwaltung nach den Fallzahlen folgt immer erst eineinhalb Jahre verspätet. Im Klartext: Das Jugendamt arbeitet jetzt mit dem Personal, das im Oktober 1990 notwendig gewesen wäre. Die entsprechenden Stellen für die heutige Situation stehen 1994 ins Haus. Zwei Frauen gingen 1990 in den Schwangerschaftsurlaub und wurden nicht ersetzt. Die übrigen Mitarbeiter arbeiten immer noch ohne Computer, sind überlastet, müssen mit genervten Kunden umgehen, werden aggressiv, brechen zusammen, werden krank, fallen aus. Ein Teufelskreis. Freie Stellen zu besetzen ist so gut wie unmöglich — es gibt keine Bewerber. »Ich arbeite hier auch nur noch, weil ich hoffe, daß es mal wieder besser wird«, erzählt eine Mitarbeiterin.
Die Mutter eines 18jährigen Sohnes stand am Dienstag im Rathaus Friedenau vor verschlossenen Türen. Sie hatte nicht mitbekommen, daß das Amt eine Woche geschlossen bleibt — nach heftigem Drängen bekam sie einen Nottermin, um an ihr Geld zu kommmen. »Für jeden Firlefanz muß man die Ämter abrennen«, beschwert sie sich über die vielen Anträge und Bescheinigungen, »und dann machen die einfach zu«. Die Erklärung der Personalsituation interessiert sie wenig. »Das geht so nicht. Zum Sozi geht doch keiner für nüscht«. Jeannette Goddar
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