: Gefährdete Gattung
Stücke aus Europa — die erste Bonner Biennale des europäischen Autorentheaters ■ Von Gerhard Preußer
Internationale Festivals gibt es viele, Theaterfestivals gibt es noch mehr, aber ein internationales Theaterfestival der Autoren gibt es nur einmal: in Bonn.
Der neue Intendant des Bonner Schauspiels, Manfred Beilharz, hat mit gutem Gespür eine Lücke im dichten Festivalnetz gefunden und ein Konzept kreiert, das auch den Möglichkeiten und Bedürfnissen Bonns entspricht: Es demonstriert die bedrohte Internationalität der Stadt, ohne mit den Publikumsmassen von Millionenstädten wie Berlin oder München konkurrieren zu wollen. Opportunistisches Kalkül kann man Beilharz auch nicht vorwerfen: Der Spielplan seines Theaters in der ersten Spielzeit war ebenso vom Bemühen um eine internationale Öffnung des deutschen Theaters und vom Engagement für neue Stücke geprägt wie die Biennale. Hier ist tatsächlich der seltene Fall, daß ein Festival in ein langfristiges Konzept integriert ist.
Aus der Schwerpunktsetzung auf den Autor ergibt sich die ganze Konstruktion des Festivals. Es geht um Theaterstücke, aber die Auswahl treffen nicht Kritiker oder Intendanten, sondern Autoren. Und als Repräsentanzfigur braucht man dann natürlich einen Oberautor. Den fand man in Tankred Dorst. Der unbewegte erste Beweger Dorst stößt nun in jedem europäischen Land einen weiteren Autor, genannt Paten, an, der wiederum sich einen Unterautor aussucht, dessen Stück in Bonn aufgeführt wird. Mafiose Vetternwirtschaft, könnte man meinen, aber in seinem offengelegten Subjektivismus ist dieser Auswahlmechanismus der obskuren Auswahl durch einen Festivalmacher wie bei „Theater der Welt“ vorzuziehen. Vertrauenspersonen braucht jeder, der sich auf einem so zerklüfteten Feld wie der europäischen Kulturlandschaft orientieren will. Bei der Bonner Biennale sind sie der Öffentlichkeit bekannt und somit kontrollierbar. Mit wenigen Ausnahmen scheint sich das Patensystem bewährt zu haben. Die Hauptschwierigkeiten lagen anderswo: Um nach Bonn eingeladen zu werden, mußte ein Stück in der Zeit des Festivals aufführbar sein, das heißt, die Inszenierung durfte noch nicht abgespielt oder mußte zumindest wieder aufnehmbar sein. Und das ist in Ländern mit überwiegend privatwirtschaftlichem En-suite-Betrieb oft schwer. (Daran scheiterte ein geplanter Beitrag Irlands.)
Der Vorrang für die Autoren ging so weit, daß das Bonner Schauspiel alle beteiligten Stückeschreiber, die Paten wie die Autoren der aufgeführten Stücke, für die Zeit des Festivals nach Bonn einlud. Und viele, vor allem osteuropäische Autoren, machten von diesem Angebot Gebrauch. Dadurch erhielt das Festival mit seinem reichen Rahmenprogramm von Lesungen, Porträtgesprächen und Symposien auch den Charakter eines Werkstatt-Treffens.
Den Autor in den Mittelpunkt eines Theaterfestivals zu stellen, ist heute unmodern. Die Bedeutung des Stückeschreibers im Theater schwindet. Seit den sechziger Jahren, seit Grotowski, seit dem Living Theatre und der Entdeckung Artauds wuchs die Bedeutung des nonverbalen Theaters unaufhaltsam. Heute ändert sich die Rolle des Autors völlig, oder sie wird marginal. Das Festival bot dafür gute Beispiele.
Im polnischen Theater usurpiert der Regisseur die Rolle des Autors. Urheber des Theaterereignisses ist er allein: Textautor, Bildautor, Inszenierungsautor. Janusz Wisniewskis Ankunft Quai Vier, eine Produktion des Bonner Schauspiels, und Jerzy Grzegorzweskis Bilderfolge Die Stadt zählt Hundenasen über Warschau zur Zeit des Kriegsrechts vom Studio Theater Warschau waren solche Stücke ohne Stückeschreiber. Einer der beiden russischen Beiträge, Beglatzt, Brünett, hat zwar einen Textautor, Dani Gink, doch ist die Rolle des Textes in dieser Produktion so gering gegenüber der des Schauspielers, daß neben dem Wortautor und dem Regisseur der Popmusiker Pjotr Mamonow, der die Hauptrolle spielt, als Co-Autor genannt werden müßte. Und die beim Publikum erfolgreichste Aufführung der Biennale, Ich habe einen Onkel in Amerika von der katalanischen Truppe Els Jonglars, war eine typische Gruppenproduktion unter einem Leiter, der gleichzeitig Regisseur und Autor ist, wie wir sie von vielen anderen freien Gruppen in Europa kennen. Dieses mitreißende Tanz- und Musikspektakel, in dem die Insassen und Ärzte einer Irrenanstalt die Eroberung Amerikas durch die Spanier nachspielen, wird sicher noch auf vielen anderen europäischen Festivals zu sehen sein.
Insofern ist die Einrichtung eines Festivals für Theaterautoren altmodisch und eurozentristisch. Es gibt Theaterkultur, die ohne Stückeschreiber auskommen (wie Sévérin-Cécile Abéga aus Kamerun auf dem Symposion des Internationalen Theaterinstituts im Rahmen der Biennale berichtete). Aber ohne die gedankliche Durchdringung und ihre Formulierung durch einen einzelnen ist Theater als Kunstform in Europa nicht weiterzuentwickeln. Der Theaterautor ist vielleicht eine gefährdete Gattung. Er bedarf jedoch nicht der Schonung, sondern der Herausforderung. Und die ist die Bonner Biennale. Dies war eine Veranstaltung, die nicht nach einem Publikumsrausch und Publicityboom folgenlos vergessen werden wird, sondern die durch die intensive Kommunikation der beteiligten Theaterleute Folgen für die europäische Theaterszene haben wird.
Bei den achtzehn eingeladenen Stücken lag der Schwerpunkt auf Osteuropa. Die westeuropäischen Theaterzentren waren entweder nicht vertreten (England, Italien) oder untypisch repräsentiert (Frankreich durch ein wundervoll poetisches Stück des Antillenfranzosen Julius Amédé Laou Der Gewöhnliche Wahnsinn einer Tochter Chams). So wurde die Lage des osteuropäischen Theaters zu einem der wichtigsten Diskussionsthemen auf den vielen Foren, die das Festival bot.
Die vorläufige Bilanz ist ernüchternd: Tadeusz Rozewicz, Biennale- Pate und Nestor der polnischen Dramatiker, stellte fest, die großen politischen Umwälzungen der letzten Jahre hätten keine neuen Formen in der Kunst hervorgebracht. Viktor Slawkin, der russische Partnerautor, meinte, heute könne man nur für die Schublade schreiben, zu schwankend sei der Boden, auf dem man sich bewege. Die Beiträge zum Festival bestätigten dies: Reprisen eines symbolistisch überhöhten absurden Dramas (Ivan Radoevs melancholische Altherrenkomödie Wunder aus Bulgarien und Matei Visniecs böse Farce Engagement für einen Clown aus Rumänien) oder undramatische Erzählprosa: Ljudmila Petruschewskajas Geschichten aus dem chaotischen russischen Alltag Das dunkle Zimmer, Imre Kértesz' Novelle Protokoll (über eine abgebrochene Fahrt aus Ungarn in den Westen) und Karel Steigerwalds verwirrende Studie über das Schicksal der Schriftsteller im Stalinismus Gram, Gram, Angst, Strick und Grube aus Prag.
Wenn man jedoch den (ost)deutschen Beitrag zur Biennale bedenkt, Georg Seidels Villa Jugend in der Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden, muß man dieses Urteil relativieren. Was auf den ersten Blick wie ein konventionell gebautes, realistisches Stück aussieht, ist in Wahrheit ein bewußt verknapptes Sprachkunstwerk, dessen inhaltliche Brisanz nur der versteht, der die angebotenen Leerstellen mit entsprechenden Konnotationen füllen kann. Für ein Publikum, das den Untergang der DDR am eigenen Leibe erfahren hat, ist das kaum auszuhalten; und noch für die ungeschorenen Westler gibt es genug an schaudernder Selbsterkenntnis her.
Wer jedoch die kulturell kodierten Anschlußmöglichkeiten nicht hat (von der Grundschulgrammatik des Tätigkeitswortes bis zur preußischen Pflichtethik), für den wird Villa Jugend ein ganz gewöhnliches, trauriges Stück bleiben. Vielleicht fehlen uns auch so die Verständnismöglichkeiten für die osteuropäischen Stücke.
Theaterstücke wirken auf die Öffentlichkeit. Noch sind diese Öffentlichkeiten national verfaßt. Für ihre Integration in eine europäische, übernationale Öffentlichkeit ist ein Festival wie die Bonner Biennale unabdingbar.
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