: Anarchosyndikalistische Kritiken
■ betr.: Scherbengericht für den ÖTV-Vorstand, taz vom 22.6.92
betr.: Scherbengericht für
den ÖTV-Vorstand von Martin Kempe, taz vom 22.6.92
„Wer wie sie (die international föderierten AnarchistInnen) keinerlei Einfluß oder Macht hat, kann guten Gewissens die Entmachtung aller fordern und braucht die eigene Korrumpierung nicht zu fürchten“ (taz v. 21.4.92), kanzelte taz-Autor Bernd Müllender die AnarchosyndikalistInnen anläßlich des 19. Weltkongresses der Internationalen ArbeiterInnen Assoziation (IAA), deren deutsche Sektion die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) ist, ab.
Diese Schmähung im Hinterkopf, staunte ich nicht schlecht, als ich im taz-Artikel „Scherbengericht für den ÖTV-Vorstand“ die (immer) aktuellen anarchosyndikalistischen Kritiken an der aktuellen DGB-Gewerkschaftspolitik aufgelistet fand. Untergräbt ein sympathisierender Maulwurf Eure Redaktion, oder sind unsere Positionen doch nicht so weltfremd, wie es Bernd Müllender der LeserInnenschaft glauben machen wollte?
Es ist bezeichnend, daß der stellvertretende bayrische ÖTV-Landesvorsitzende Michael Wendl innerhalb der ÖTV isoliert ist mit seiner anscheinend zu arbeitnehmerfreundlichen These, der Abschluß von 5,4 Prozent sei nur deswegen „das Ende der Fahnenstange“ gewesen, weil Wulf-Mathies den Streik mittels der „Argumente der anderen Seite“ — also der Arbeitgeber — beendet habe und ebenso ausgegrenzt wird mit seiner arbeitgeberfeindlichen Ansicht, daß die gegenwärtige Situation in Deutschland nur durch eine expansive Lohnpolitik zu bewältigen sei.
Wer meint, hiermit habe die in einer reformistischen Gewerkschaft machbare Perversion ihren Zenit erreicht, sieht sich getäuscht: Das konsequente Eintreten für die ArbeitnehmerInnen wird — wohlgemerkt von Gewerkschaftern, nicht von Arbeitgebern — als „Prozentradikalismus“ gebrandmarkt; trocken stellt Autor Martin Kempe fest, Wulf-Mathies hat „Abschied von der traditionellen gewerkschaftlichen Forderung nach Umverteilung der Einkommen zugunsten der Arbeitnehmer genommen“.
Diese Feststellung können wir AnarchosyndikalistInnen kaum treffender ausdrücken, und daß wir die Organisierung unserer Interessen in zentralistisch aufgebauten Organisationen, wie z.B. dem DGB, ablehnen, da diese stets Machtkonzentration und Hierarchie bedeuten, sei uns verziehen angesichts der „Regionalfürsten der ÖTV“, die „nur ihren eigenen Machtzuwachs im Auge haben“ (O-Ton Martin Kempe). Schon allein deswegen brauchen die AnarchistInnen „die eigene Korrumpierung nicht zu fürchten“ — selbst dann nicht, wenn sie wie die CNT in Spanien über allerhand Einfluß verfügen.
Doch trotz des erfreulichen schwarz-roten Einschlages bei der taz bleibt eines verwunderlich: Wo bleiben Eure Empörung und Euer Galgenhumor, wenn eine „traditionsreiche“ Gewerkschaft wie die ÖTV ihre traditionelle Rolle der ArbeitnehmerInnenvertretung ablegt und in die progressive Rolle der Arbeitgebervertretung schlüpft, wenn sie ihre 1,2 Millionen Mitglieder schamlos für dumm verkauft mit der Bemerkung, angesichts dieser Stärke wäre bei Verlängerung des Streiks kein besseres Ergebnis zu erzielen gewesen? Seid Ihr mittlerweile so weltfremd geworden, daß Ihr dieses für „normal“ haltet? [...] FAU-IAA,
Ortsgruppe Hannover
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