: Der Süden kein Vorbild für Osteuropa
Auf dem ersten UNCTED-Folgetreffen standen die Umweltprobleme Osteuropas im Mittelpunkt/ Beste Entwicklungsstrategie kann zur globalen Zerstörung führen/ Änderung der Weltwirtschaft gefordert ■ Von Hermann-Josef Tenhagen
Berlin (taz) — „Die Entwicklung Osteuropas geht zwar in die Richtung Lateinamerikas, aber das kann doch kein Vorbild sein.“ Für Ulrich Weißenburger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist ein Vergleich des Transformationsprozesses der osteuropäischen Wirtschaft mit lateinamerikanischen Erfahrungen wenig hilfreich. „Die Systemtransformation ist ein spezifisches Osteuropa-Problem“, so Weißenburger auf dem ersten Folgetreffen der UNCTED-Konferenz von Rio am Wochenende in Berlin. Der stattfindende schmerzhafte Strukturwandel könne zwar durchaus zu einer Verelendung großer Bevölkerungsteile wie in den lateinamerikanischen Ländern führen. Aber selbst wenn es in Lateinamerika immer eine starke Staatsbürokratie gegeben habe — die Eigentumsverhältnisse und die soziale Struktur seien dort völlig anders, untermauerte der Ostberliner Wissenschaftler Peter Stier.
Die eklatantesten Probleme Osteuropas machte Weißenburger auf der international besetzten Konferenz vor allem in den immensen Umweltschäden aus. So gingen zwei Drittel der Luftverschmutzung auf die großen Altindustrien zurück; der private Verbrauch spiele dabei noch keine entscheidende Rolle. Die Anlagen stammten zum Teil noch aus der Zeit des ersten Weltkrieges und arbeiteten ineffizient, so Weißenburger. „Allein an dem Standort Orelsk in Sibirien wird mit 2,2 Millionen Tonnen im Jahr genausoviel Schwefeldioxid in die Luft geblasen wie in der ganzen Bundesrepublik.“
Die Überrüstung der Sowjetunion habe ungeheure Altlasten zurückgelassen, ergänzte die Friedensforscherin Petra Opitz. Selbst wenn jetzt radikal abgerüstet werde, sauge die Beseitigung der Altlasten die freiwerdenden Finanzmittel weitgehend wieder auf. „Auf solche militärischen Schulden läßt sich keine Friedensdividende auszahlen“, so Opitz.
Die auf wenige großindustrielle Komplexe konzentrierte Umweltverschmutzung biete aber auch die Chance zur „partiellen Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie“, schätzt Weißenburger. Wie kaum irgendwo sonst zahlten sich Umweltschutzinvestitionen in Osteuropa unmittelbar aus. Die jährlich verursachten Umweltschäden wurden von sowjetischen Wissenschaftlern Ende der achtziger Jahre auf 70 Milliarden Rubel geschätzt; die Ausgaben für Umweltschutz auf gerade drei Milliarden. Da bringe jeder investierte Rubel einen Effekt von 20 Rubeln, rechnet Weißenburger vor.
Ein Vergleich von Lateinamerika und Osteuropa wird erst im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Langfristperspektive interessant: Beide Regionen verfolgen inzwischen eine Strategie der aktiven Weltmarktintegration. Der Staat spiele dabei im Gegensatz zu den von IWF und Weltbank favorisierten wirtschaftlich liberalen Konzepten der achtziger Jahre wieder eine wichtige Rolle, so der lateinamerikanische Wissenschaftler Leopoldo Mamora. Er sei zuständig für die Qualifizierung von Arbeitskräften und Hilfen bei der Technologieentwicklung im eigenen Land. „Einige Länder der sogenannten Dritten Welt, die eine solche Integration versucht haben, haben gezeigt, das das möglich ist und Spielräume eröffnet.“ Größere Spielräume jedenfalls, als sie die lateinamerikanischen Staaten mit ihrer Binnenmarktorientierung behalten hätten. „Wir hatten lange geglaubt, daß wir unter kapitalistischen Bedingungen das Glas nicht voll kriegen, nicht einmal halbvoll.“
Doch Mamora relativierte gleich wieder das scheinbar so erfolgreiche Entwicklungsmodell. Gerade wenn die osteuropäischen Staaten und die Lateinamerikaner gleichzeitig auf den Weltmarkt drängten und nach klassischen ökonomischen Kriterien Erfolg hätten, wären die ökologischen Konsequenzen einer solchen Strategie verheerend. „Die einzelnen Länder wachsen vielleicht, aber sie achten natürlich nicht auf die Anforderungen des globalen Umweltschutzes.“ Ein Beispiel: In ganz Afrika fahren heute genauso viele Autos wie in Nordrhein-Westfalen — das wird sich dann radikal ändern.
Mamoras Fazit blieb in Berlin unwidersprochen. Wenn man über dauerhafte Entwicklung rede, dann komme man um zwei Punkte nicht herum: Die internationalen Wirtschaftsstrukturen müßten zugunsten des Südens verändert werden. Und „die Konsumbotschaft des Nordens“ müsse eine andere werden — denn diese sei mehr denn je das Vorbild für den Rest der Welt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen