DEBATTE: Partei des Ressentiments
■ Diestels Sammlungsbewegung verschärft die Ost-West-Konfrontation
Immerhin, zwei sind es schon. Damit haben Peter-Michael Diestel und Gregor Gysi die quantitative Mindestanforderung für eine Sammlungsbewegung bereits erfüllt. Weitere Namen — darunter so elektrisierende wie Lothar de Maiziere, Heinrich Fink, Stefan Heym — werden genannt und wieder dementiert. Ein Aufruf ist in Arbeit. Bis er fertig und der Kreis der Erstunterzeichner beisammen ist, hält Diestel die Öffentlichkeit mit Kommentaren und Andeutungen in Atem — und das Ost-Projekt in der Debatte; Gysi genießt schon mal vorab den unerwarteten politischen Bedeutungsschub. Ein heterogenes Duo, eine Idee, drei Wochen Geraune und ein fulminantes Medienecho — darauf reduziert sich bislang das Projekt einer Interessenvertretung-Ost.
Bonner Paralyse
Nur in Bonn will man die Sache nicht ganz so gelassen sehen. Der Schrecken, den die diffuse Ankündigung dort erzeugte, steht in krassem Widerspruch zum tatsächlichen Stand des Projekts. Geschickt versteht es Diestel, die verstörte Bonner Defensive als Beweis für die Realitätshaltigkeit der annoncierten Gründung zu verkaufen. So ist die Ost-Partei — noch ohne Mitglieder und Programm — bereits zum politischen Faktor avanciert. Ihren vorgeburtlichen Erfolg verdankt sie zuerst dem schlechten Gewissen der Bonner Einheitspolitik und der Befürchtung, die Duldsamkeit im deutschen Osten könne doch noch ein Ende finden und die Lethargie in politische Offensive umschlagen. Daß die ostdeutsche Frustration auch weiterhin politisch folgenlos bleibt, scheint als Konstante der Nach-Einheitszeit nicht länger garantiert.
Nichts käme dem einheitsgeplagten Bonn ungelegener als eine Organisation, die jetzt offensiv einfordert, was nie zu halten war: den schnellen Übergang in den Westen, die Angleichung der Lebensverhältnisse, die „blühenden Landschaften“. Gerade weil es von Tag zu Tag einfacher erscheint, die Einheitspolitik mit dem bloßen Verweis auf die triste Ost-Realität als „gigantisches Betrugsmanöver“ zu entlarven, sind die aufgeregten Reaktionen der Parteien nicht einfach nur Ausdruck ihrer allgemeinen Verunsicherung. Selbst mit der Befürchtung, die politisch gebündelte Stimmungslage in den neuen Ländern könne schon bald den lustlos-desorientierten Bonner Trott gefährden, ist die Hektik kaum schon erklärt. Im Bonner Schrecken steckt vielmehr die Ahnung von der möglichen Indienstnahme ostdeutscher Enttäuschung für eine ressentimentgeladene Anti-West-Politik.
Die Voraussetzungen hierfür sind in der Tat weit gediehen. Die Interpretation der Einheit als fortdauernde westliche Skandalgeschichte gerät in den neuen Ländern — weit über das PDS-Milieu hinaus — zur allfälligen Verarbeitungsform des Einheitsfrustes. In der Dichotomie von Betrogenen und Betrügern, Kolonisierten und Kolonisatoren verschwindet der Selbstbetrug, mit dem erst die Einheitspolitik 1990 zum alternativlosen Erfolgsprojekt geraten konnte; zudem bietet das Stereotyp nicht nur die allzeit passende „Erklärung“ der neuen Realität, sondern — mit „dem Westen“ als Verursacher, „dem Osten“ als bloßem Objekt — die Befriedigung, wenigstens in moralischer Hinsicht auf der richtigen Seite zu stehen.
Kaum überraschend, daß der stereotype Zugriff auch die Perspektive auf die Vergangenheit verändert. Reale Enttäuschung, die Schuldprojektion Richtung Westen und schleichende Idealisierung eines Zustandes, den man 1990 gar nicht schnell genug hinter sich lassen konnte, gehen zusammen. Zwei Jahre nach der deutsch-deutschen Währungsunion erscheint unter dem Bann des „neuen Regimes“ der Charakter des alten merklich verblaßt — eine Tendenz, die sich an den Ostberliner Kommunalwahlergebnissen ebenso wie an der Trendwende in der Stasi-Debatte ablesen läßt. Vollends aus dem Blick gerät der offensichtliche Zusammenhang von aktueller Misere und vierzigjähriger SED-Herrschaft, weil er sich dem Primat westlicher Rundumverantwortung nicht fügt. So erscheint etwa das west-östliche Lohngefälle zum Anreiz für einen neudeutschen „Manchester-Kapitalismus“, die in Bonn beschlossene Mieterhöhung zum kalkulierten Akt westlicher Depravierungspolitik.
Populismus pur
Doch noch die krude Zurichtung der Realität nach dem Ost-West-Schema ist zugleich ein — wie auch immer verzerrter — Reflex der Wirklichkeit. Kein politischer oder gesellschaftlicher Konflikt in den neuen Ländern, in dem nicht tatsächlich „der Westen“ die Schlüsselrolle spielt. Weil die politische Klasse der Bundesrepublik der Verantwortung nicht gerecht wird, die sie 1990 so vollmundig übernommen hat, gerät sie jetzt auf die Anklagebank. Jede Politik wird heute an diese Erfahrung anknüpfen müssen, will sie sich nicht von vornherein hoffnungslos isolieren. Doch ob sie das grassierende Anti-West-Ressentiment mit der Zumutung komplexerer Wahrnehmung konfrontiert und aufzulösen sucht oder es bedient und als Mobilisierungsfaktor nutzt, darin liegt die prinzipielle Alternative.
Wer — wie Diestel — sich als Vertreter der Entrechteten geriert, in deren Interesse er „Druck machen“ will, muß schon für die Plausibilität seiner Rolle und für den Mobilisierungserfolg der Bewegung den Graben zwischen Ost und West weit aufreißen. Schon um ihrer Attraktivität willen ist die Sammlungsbewegung eher auf drastische denn differenzierende Sichtweise abonniert. Seine populistische Schlagseite bekommt das Projekt bereits, indem es sich als regionale Interessenvertretung entlang der Ressentiment-Grenze konstituiert.
Der Versuch, „den Westen“ als alleinverantwortlich für die Misere zu brandmarken und ihn im selben Atemzug als allzuständigen Adressaten für die Ost-Forderungen zu fixieren, hat nicht nur etwas Paradoxes; er bedeutet zugleich die bloße Umkehrung der Einheitseuphorie. Ihr erschien der Westen als strahlender Zukunftsgarant, dem die niedergehende DDR fraglos jede Forderung zu erfüllen hatte.
Chancen verspielt?
Mit dem lapidaren Verweis auf seine „Lernfähigkeit“ — wie Diestel heute meint — läßt sich die radikale Kehrtwendung in der Sache kaum abtun. Denn in der Art, wie Diestel Politik betreibt, bleibt er sich treu. Er verkörpert einen Typus von Politik, dem der Wirklichkeitsbezug zugunsten stimmungsgeladenen Trendsettings endgültig abhanden gekommen ist. Dem Einheitspopulismus folgt jetzt der Ost-Populismus. Der wird zur Verbesserung der tristen Realität kaum etwas beizusteuern haben. Doch für eine Sammlungsbewegung, in der jene oben schwimmen, die den populistischen Zirkel aus Ressentiment und Forderung, aus Anklage und Scheinlösung, am dreistesten bedienen, könnte es reichen.
Noch bleibt uns die Ost-Bewegung erspart. Doch schon die bloße Ankündigung läßt die Zäsur erahnen, die ihr Erfolg für die deutsch- deutschen Verhältnisse bedeuten würde. Eine machtvolle Ost-Bewegung wäre nicht — wie einige propagieren — das notwendige Durchgangsstadium zur wirklichen Einheit, sondern die Initialzündung für die offene Ost-West-Konfrontation. Die Ressentiments jedenfalls sind längst schon wechselseitig abrufbar. Nichts käme den Besitzstandswahrern im Westen gelegener als ein passender Vorwand für die offensive Wende im deutsch-deutschen Verteilungskampf.
Angesichts der spärlichen Solidarität des Westens und der Ignoranz einer Politik, die sich noch immer darin erschöpft, ihren Mißerfolg zu verschleiern, erscheint der Bonner Appell gegen die Ost-Bewegung und für eine gemeinsame Politik in der Tat nur als neuerlicher Beschwichtigungsversuch. Doch zielsicherer noch als die Bonner Paralyse würde eine populistisch angeheizte Ost- West-Konfrontation die Chance für einen neuen Einheitskompromiß verspielen, der dem Osten nur die langfristige Verbesserung und dem Westen die massive Wohlstandseinbuße zumutet. Matthias Geis
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