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Vom Rohstoff der Literatur

■ Ein Buch von Mario Vargas Llosa über ein Buch von Mario Vargas Llosa

Gabriel Garcia Marquéz sagte einmal, keine einzige Begebenheit in seinen Romanen sei erfunden, alle, selbst die unglaublichsten, habe er in der Zeitung gelesen. Denkt man beispielsweise an die Großmutter in Hundert Jahre Einsamkeit, die in ihrem Zimmer so vertrocknete, daß sie die Ameisen aus dem Haus trugen, dann kann man diese Bemerkung nur für die Koketterie des Erzählers mit der Reportage halten. Oder doch nicht?

Auch der Peruaner Mario Vargas Llosa, der eine Doktorarbeit über das Werk des kolumbianischen Kollegen schrieb, entmystifizierte die Motive seines ersten eigenen großen Romans Das grüne Haus (1966) als Wirklichkeitsfragmente. So geschehen 1968 vor Studenten der Washington State University. Im Gegensatz zu Marquéz verschwieg er dabei allerdings nicht, daß „die Tatsachen, welche die Wurzeln dieses Romans bilden, zusammenwirkten, sich wechselseitig durchdrangen und veränderten und sich in einer Geschichte aus Wörtern gewissermaßen von mir emanzipierten“.

Daß ein Autor Realität verdichtet, wird geradezu von ihm erwartet. Wie er es macht, ist entscheidend, und genau das beschrieb Vargas Llosa in seinem Vortrag, der jetzt unter dem Titel Geheime Geschichte eines Romans anläßlich einer Neuauflage des Grünen Hauses erstmals auf deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

„Der Rohstoff der Literatur ist nicht das Glück, sondern das Unglück der Menschen“, behauptet Vargas Llosa und entwirrt die im Roman verschmolzenen Personen, Geschichten und Handlungsorte. Was aus dem umgekehrten Dichtungsprozeß entsteht, sind, neben autobiographischen Fragmenten, mehrere Kurzreportagen über die Trostlosigkeit eines Kleinstadtbordells und die Ausbeutung der Naturvölker im Amazonasgebiet.

Die scheinbar authentischen Orte des Romans, das Dorf Piura am Rande der Wüste Sechura und der Urwald am oberen Amazonas, werden als fiktive Stätten deutlich, denn, klärt das Buch über das Buch auf, teils wurden einzelne Charaktere mit ihrer gesamten Geschichte in das jeweils andere Ambiente versetzt, teils nur Charakterzüge oder Lebensumstände „vertauscht“. Die Figur des Indiomädchens Josefina ist andererseits ohne konkretes Vorbild, prototypisch vereint sich in ihr das Schicksal unzähliger realer Mädchen, die, von Nonnen aus ihrem Kulturkreis gerissen, christlich erzogen und dann den patrones zur freien Verfügung übergeben wurden.

Aber die Geheime Geschichte ist nicht nur ein Schlüssel zum Roman, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis der Arbeitsweise des Dichters Mario Vargas Llosa. Er schildert das Anfangskonzept (zwei gesonderte Romane, die er parallel schreiben wollte), die Schwierigkeiten bei der Ausführung und die Entwicklung hin zum Endprodukt. Auch ganz generell plaudert Mario Vargas Llosa aus dem Federmäppchen seiner schriftstellerischen Laufbahn und beschönigt auch die anfängliche Erfolglosigkeit nicht, ohne sich zum Dachkammergenie zu stilisieren.

Ein Arbeitsbericht also ist in dem jetzt vorliegenden Bändchen enthalten, dazu eine autobiographische Skizze und — nicht zuletzt — eine kleine lateinamerikanische Poetologie. Petra Kohse

Mario Vargas Llosa: Geheime Geschichte eines Romans. Suhrkamp 1992, 82Seiten, 19,80DM.

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