Vilém Flusser: Glossar

Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, Emigrant in London, Student und später Professor der Philosophie in Sao Paulo, kam 1972 nach Europa zurück. Er starb im vergangenen Oktober bei einem Verkehrsunfall bei Prag. Das komplette Glossar und mehr zu Flusser in „European Photography Nr.50“ (Eu.Ph.-Verlag, Göttingen), 150DM.

Existenz: „Existenz“ ist eine Einstellung, nicht ein Standpunkt, und zwar ist es die Einstellung der Verneinung. Wir haben die Fähigkeit, uns aus dem Umstand zurückzuziehen (zu „ek-sistieren“), weil wir uns negativ zu ihm einstellen können. Ein solcher Rückzug aus der Lebenswelt macht eine vorgestellte Welt und aus der zurückgezogenen Existenz ein Subjekt von Vorstellungen.

Fotografie: Ein automatisch von programmierten Apparaten im Verlauf eines auf Zufall beruhenden Spiels notwendigerweise erzeugtes und distribuiertes Bild eines magischen Sachverhaltes, dessen Symbole ihre Empfänger für ein unwahrscheinliches Verhalten informieren.

Fotografische Geste: Eine Jagdbewegung, bei der Fotograf und Apparat zu einer unteilbaren Funktion verfließen. Sie jagt nach neuen Sachverhalten, nach noch nie vorher gesehenen Situationen, nach Unwahrscheinlichem, nach Informationen. Die Struktur der Fotogeste ist quantisch: ein aus punktartigem Zögern und punktartigem Sich-Entscheiden aufgebauter Zweifel. Es geht bei ihr um eine typisch nachindustrielle Geste: Sie ist nachideologisch und programmiert, und die Wirklichkeit ist für sie die Information, nicht die Bedeutung dieser Information.

Fotokritik: Die zu stellende Frage lautete: Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen, und dank welcher Methode? Und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode?

Funktionär: Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren. Anders gesagt, Funktionäre beherrschen ein Spiel, für das sie nicht kompetent sind. Kafka.

Gesellschaft: Jede Gesellschaftsstruktur kann, vom Standpunkt der Kommunikation her betrachtet, als ein Zusammenspiel von Diskursen und Dialogen angesehen werden. Weil nämlich von einer derartigen Sicht aus die Gesellschaft ein Gewebe ist, welches die Funktion hat, Informationen zu erzeugen und weiterzugeben, damit sie in Gedächtnissen gespeichert werden.

Geschichte: Ein eindeutiger, auf die Zukunft deutender Vorgang, welcher von Bildern ausgeht, um das in ihnen Implizierte zu explizieren. Sie ist ein Bildinhalte erklärender, erzählender, die in den Bildinhalten verborgenen Möglichkeiten auseinanderfaltender Vorgang.

Gewohnheit: Das ästhetische Äquivalent dessen, was in der Physik „Entropie“ genannt wird; die Grundkategorie in der Ästhetik. „Ästhetisch“ heißt „erlebbar“, und „Gewohnheit“ ist Anästhesie: Woran man gewöhnt ist, wird nicht wahrgenommen. Demnach ist Gewohnheit als Grundkategorie der Ästhetik ein Maßstab des Erlebens, des Wahrnehmens und des Wahrgenommenwerdens: je ungewöhnlicher, desto wahrnehmbarer (erschütternder), und je älter, desto weniger erlebbar.

Ich: Das sogenannte „Ich“ ist ein Knotenpunkt in einem Netz von dialogisch strömenden Informationen und ein Lager für durchgegangene Informationen (und zwar sowohl von ererbten als auch, zum weitaus größeren Teil, von erworbenen Informationen), und an diesem Knotenpunkt entstehen unvorhergesehene, unwahrscheinliche Komputationen, neue Informationen. — „Ich“ ist die Summe aller durch meine Möglichkeiten hindurch verwirklichten Taten („res gestae“).

Ideologie: „Ideologie“ heißt, einen Standpunkt allen anderen vorziehen und auf diesem Standpunkt verharren. Der Ideologe sieht die Welt von einem einzigen Standpunkt aus und kann sie daher „erklären“ und versuchen, sie zu „verändern“. Dem Fotografen hingegen stehen zahlreiche ebenbürtige Standpunkte zur Verfügung. Sein Ziel ist daher nicht, die Welt zu „erklären“, sondern sie von immer neuen Standpunkten aus „aufzunehmen“. Man soll sich jedoch von der Ideologiefreiheit des Fotografen nicht täuschen lassen. Die Ideologie ist noch immer da, allerdings nicht mehr im Fotografen, sondern sie ist im Fotoapparat verborgen.