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Kaum daß sie schwankt

Marie Trintignant als Claude Chabrols „Betty“  ■ Von Christiane Peitz

Der Abschied ist wie ein Anfang. Scheue Gesten, ein zögerndes Gespräch: sie sehen sich kaum an dabei. Wenn Betty flüchtig hochschaut, sieht Guy wie zufällig zur Seite; wenn er sie betrachtet, senkt sie den Blick. Mit ihrer Hand hält Betty den Mantel geschlossen, als müsse sie sich vor einem Angriff schützen, den sie doch gar nicht zu befürchten hat. Und Guy knetet verlegen seine Hände.

Er macht einen Vorschlag, sie lehnt ab. Sie sagt aber, sein Angebot rühre sie und bedankt sich. Dann sagt sie: Geh jetzt. Es klingt wie eine Liebeserklärung. Guy wünscht ihr Glück und legt den Finger flüchtig an die Lippen. Dann entfernt er sich, dreht sich, aus großem Abstand, noch einmal um, hebt die Hand zum Gruß. Betty, immer noch die Hand am Mantelkragen, wendet sich ihm zu, verneigt sich. Sie lächelt dabei. Ende einer Ehe.

Man muß schon genau hinhören, um zu begreifen, was bei dieser so anrührenden Szene verhandelt wird. Betty und Guy sind reich. Vornehme Pariser Gesellschaft. Betty hat Guy betrogen und sich mit ihrem Liebhaber zu Hause im Salon erwischen lassen: ein Skandal. Betty wird verstoßen, am gleichen Abend noch, und muß einen Vertrag unterschreiben, in dem sie ihre Schande gesteht, auf die Kinder verzichtet und fürs erste mit einem Scheck von 200.000 Francs ausgestattet wird. Guy will die Scheidung vermeiden, um den Preis, daß Betty mit der Schwiegermutter eine Weile in Lyon lebt. Die Schwiegermutter war am meisten entsetzt gewesen. Betty will wissen, ob es seine Idee war. Er sagt: Es war unsere Idee. Sie fragt, ob er es möchte. Er sagt: Ich möchte es wegen der Kinder und wegen Dir. Er spricht nicht von sich. Deshalb lehnt sie ab. Er will den Ruf der Familie retten, das Renommee, nicht ihre Liebe. Mag sein, daß Guy Betty tatsächlich liebt, daß er hofft, sich nicht endgültig trennen zu müssen. Aber das zuzugeben, hieße, die Fassung zu verlieren. Seinen Schmerz über den Verlust kann er nicht ganz verbergen, er schimmert durch, in seinem Blick aus den Augenwinkeln, seiner Verlegenheit. Aber die Zurückhaltung, die distinguierte Zärtlichkeit gilt letztlich nicht Betty. Guys Sanftheit ist keine Frage des Gefühls, sondern des Stils. Man schreit sich nicht an in solchen Kreisen.

Betty ist Marie Trintignant. Sie trägt ein Kostüm von Gilles et Poppy, aus weißem, grob gewebtem Stoff, ein Kleid von vollendeter Schlichtheit. Sie hat große Augen, breite Wangen und ein schmal sich verjüngendes Kinn, glattes schwarzes halblanges Haar, dessen Pony ihre Brauen verdeckt, so daß ihr Gesicht ein waagerechtes Oval bildet, wie die Gesichter der ägyptischen Königinnen. Am schönsten ist sie ungeschminkt. Wenn sie Whisky trinkt, setzt sie das Glas an, als ob sie bloß nippen wollte, dann kippt sie schnell einen großen Schluck hinunter und wischt verstohlen mit dem Handrücken nach. Betty ist Alkoholikerin. Betrunken legt sie den Kopf schräg, raucht Kette, ihre tiefe, ein wenig rauhe Stimme verschleift die Konsonanten, und ihre Gesten werden weich wie die Bewegungen einer Katze. Aus der Rolle fällt sie nie; kaum daß sie schwankt. Nur am Anfang weint sie, als sie Laure, der neuen Freundin, erzählt, was ihr widerfahren ist. Bruchstückhaft zunächst; und so sprunghaft, wie Betty sich erinnert, erfahren auch wir ihre Geschichte. Eine Story ergibt das nicht.

Betty von Claude Chabrol wirft einen Blick in eine Welt, die es so wohl nur in Frankreich gibt. Strenge Bourgeoisie, Geldadel. Die Männer sind Anwälte oder arbeiten im Ministerium, man hält sich Personal, diniert im Familienkreis, lebt in Louis- Seize-Möbeln und kauft der Gattin einen Pelz, nicht weil er warmhält, sondern teuer ist. Eine Welt des Luxus, vornehm, höflich, aber kalt. Seit ihrer Heirat heißt Betty nur noch Elisabeth.

Ihn interessiere vor allem das „Untier Mensch“, sagt Chabrol. Vielleicht handeln die meisten seiner Filme deshalb von der bürgerlichen Klasse, weil sich in ihren gehobenen Kreisen die meisten Exemplare dieser Spezies bewegen.

Als die kleine Tochter beim Gute- Nacht-Sagen noch fünf Minuten bei den Eltern bleiben will, blickt die Schwiegermutter über die Brillenränder und sagt mit sanftem Druck: „Man darf Kindern nicht nachgeben.“ Betty fügt sich, wie immer. Im Nebenzimmer trinkt sie heimlich Whisky und kontrolliert ihren Atem, daß niemand etwas merkt. Sie hat nicht einmal gelernt, wie man einen Säugling hält, erzählt sie Laure. Ihre Töchter gehören dem Kindermädchen.

In der Nacht nach dem Skandal gerät Betty ins „Le Trou“, ein Lokal bei Versailles, dort lernt sie Laure kennen. Laure gehört den gleichen gesellschaftlichen Kreisen an, sie kennt Bettys Familie, trinkt wie Betty, geht mit Mario, dem Besitzer des „Le Trou“, ins Bett und wohnt seit Jahren im Hotel, in das auch Betty ziehen wird. Stéphane Audran als Laure trägt Kleider von Yves Saint-Laurent, ihr rotes Haar, das mit Bettys schwarzem Haar korrespondiert, ist vom Färben schon ein wenig stumpf, der schmale Mund läßt ihr Gesicht noch blasser erscheinen. Ihre Güte gegenüber Betty ist aufrichtig, dennoch hat die Freundlichkeit etwas Maskenhaftes. Laure ist älter als Betty, aber sie beherrscht die gleiche vornehme Schlichtheit. Im „Le Trou“ verkehren Menschen wie Laure und Betty, lauter Reiche, die es aus der Bahn geschlagen hat: der drogensüchtige Arzt, der pensionierte Nato-General, der englische Lord, der jedesmal eine andere Frau mitbringt und nie etwas sagt.

Eines Abends verirrt sich eine gewöhnliche Familie in das Lokal, Mann, Frau, zwei Töchter, sie lachen laut und reden durcheinander. Ihre Ausgelassenheit wirkt vulgär neben den leisen Unterhaltungen der übrigen Gäste. Plötzlich schätzt man die bourgeoisen Umgangsformen: Der Lärm stört einen selbst.

Betty, nach dem Roman von Georges Simenon, ist jedoch keine Geschichte über eine Frau, die ausbricht aus einer von Konventionen starren Gesellschaft. Eine der ersten Einstellungen des Films zeigt Betty in einer Bar. Man sieht sie von draußen, im Halbdunkel des Lokals, durch die feingliedrigen Streben der Glasfront wie gefangen hinter einem Gitter. Im Hintergrund ein helles Fensterquadrat, das dem Viereck an der Rückwand des Filmsaals ähnlich sieht, durch das der Projektor sein Licht auf die Leinwand wirft. Kino rückwärts. In diesem Rahmen bewegt sich Betty mit souveräner Selbstverständlichkeit, hält dem Kellner das Glas hin, betrunken, aber leger. Der Reichtum engt sie zwar ein, ist aber zugleich die Garantie, daß sie bekommt, was sie verlangt: ihr Element, ein Teil von ihr. Zwar liefert Chabrol mittels Rückblenden in Bettys Kindheit und Reminiszenzen an die Affäre mit einem tiefenpsychologisch versierten Studenten manche Erklärung für Bettys Launen, ihre Promiskuität und die jahrelange freiwillige Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Zwänge. Aber diese Erklärungen hat Betty gar nicht nötig. Sie entschlüsseln nichts, sondern banalisieren nur. Bettys sphinxhaftem Wesen, dem Rätsel ihres Gesichts, kommen sie nicht bei.

Chabrol gesteht offen, wie sehr er von dieser Romanfigur, dem Geschöpf Simenons, fasziniert war und sich mit ihr identifizierte: „Alle anderen Figuren sah ich mit den Augen dieser Betty, die ich nicht zu verstehen versuchte, die ich akzeptierte, wie sie war, die ich — wie Simenon — um jeden Preis überleben lassen wollte.“ Simenon hatte dafür einen persönlichen Grund: Seine Frau Denise war damals alkoholsüchtig; als das Ehepaar sich 1960 ein Zeitlang im Versailler Hotel Trianon (dem Drehort des Films) aufhielt, traf Simenon dort Frauen wie Laure. Und weil auch Chabrol Betty verfallen ist, opfert er ihr zuliebe, in Eintracht mit dem Romancier, am Ende die Freundin Laure. Ein dramaturgischer Zug, den der Film mit der gleichen distinguierten Zurückhaltung vornimmt, mit der Guy Betty verläßt. Aber Chabrol hält zu ihr.

Claude Chabrol: Betty. Nach dem gleichnamigen Roman von Georges Simenon (deutsch bei Diogenes, zur Zeit leider vergriffen). Mit Marie Trintignant, Stéphane Audran, Produktion: Marin Karmitz, Frankreich 1991, 103 Min.

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