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Der Mensch als Zauberlehrling

Kritiker nennen ihn einen „Kassandrarufer“, er selbst bezeichnet sich als „Gelegenheitsphilosoph“, der in die „Praxis desertierte“ — Günther Anders wird morgen 90 Jahre alt  ■ Von Elke Schubert

In Goethes Ballade vom Zauberlehrling wird den Geräten ein Eigenleben zugestanden, eine Fiktion, die in unserem Jahrhundert dank zahlreicher Erfindungen — nicht zuletzt die der Kernspaltung — Wirklichkeit wurde. Während es in der Poesie noch eine Lösung gab — der Zaubermeister kannte sie und konnte den vorwitzigen Lehrling vor den sich teilenden und wasserschleppenden Besen retten —, stellt sich in der Realität die Frage, ob wir jemals die Chance hatten, als bestimmende Wesen das Eigenleben der Technik zu brechen. Der Philosoph Günther Anders hat versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden, und sie fällt negativ aus.

Günther Anders ist ein Zeuge dieses Jahrhunderts, ein Chronist zweier Weltkriege, des Exils in Amerika und der Amnesie, die Nachkriegsdeutsche und -österreicher gleichermaßen befallen hatte. Schon diese Schriften, die nur einen Bruchteil seines Oeuvres ausmachen, hätten genügen sollen, seinen Namen bekannt zu machen, doch wer interessiert sich schon für jene Kapitel der Geschichte?

Aber seine Biographie spiegelt nicht nur historische Ereignisse und die Einflüsse großer Denker, sondern auch die atemberaubende technologische Entwicklung, von der er nicht müde wird zu betonen, daß sie letztendlich uns und unseren Planeten vernichten wird. Ohne jetzt die beliebte Attitüde deutscher Feuilletonisten anzustimmen, die das Bild vom verkannten Denker bemühen, dessen umfangreiches Werk in keinem Verhältnis zu seiner Reputation stehe (und in der das Mitleid als Möglichkeit benutzt wird, ihn nicht ernst zu nehmen), also nicht nur weil eine adäquate Anerkennung seines Werkes noch aussteht, bleibt festzuhalten, daß wir — die Ignoranten — uns um unserer selbst willen mit seinen Schriften beschäftigen sollten.

Seit Mitte der achtziger Jahre ist es still geworden um Günther Anders. Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, das für ihn die traurige Bestätigung seiner These von der Begrenztheit menschlicher Fähigkeiten und Vorstellungskraft gegenüber einer Technik, die ihn in eine antiquierte Erscheinung verwandelt, darstellte, veröffentlichte er als Antwort auf das zwar kurzfristig Panik auslösende Ereignis seine Thesen zur Gewalt. Seither hat man sich unausgesprochen darauf geeinigt, Anders' Diktum, nach dem wir Angegriffene sind und uns, notfalls mit Gewalt, gegen diejenigen wehren müßten, die die Zerstörung unseres Planeten betreiben oder sie andernfalls billigend in Kauf nehmen müssen, als Altersstarrsinn abzuhaken und sich im übrigen so zu verhalten, als wäre das einstige Lieblingskind des Feuilletons, die „Kassandra“, der „ewige Mahner“ bereits gestorben. Und doch hatte Anders mit diesen Thesen nur konsequent weitergedacht, was im Feuilleton jahrzehntelang bejubelt wurde, solange es nur um Spekulationen ging.

Günther Anders wird 1902 als Sohn des jüdischen Kinderpsychologen William Stern in Breslau geboren — der Geburtsort wird ihm 80 Jahre später das zweifelhafte Angebot des „Andreas-Gryphius-Preises zur Pflege des ostdeutschen Kulturgutes“ einbringen, den er in einem Offenen Brief jedoch ablehnt. Schon als Jugendlicher macht Anders zu Beginn des Ersten Weltkrieges Erfahrungen, die seinen späteren Lebensweg entscheidend beeinflussen und seine Entwicklung zum selbsternannten Moralisten bestimmen. Wegen seiner jüdischen Herkunft wird er bei einem Ernteeinsatz in Frankreich gequält und gefoltert. “...vieles, was 16 Jahre später Hunderttausenden angetan wurde, wurde damals schon mir angetan. Ich war ein ,Avantgardist des Leidens‘“, sagte er einmal in einem biographischen Interview mit M. Greffrath. Als 22jähriger promoviert Günther Stern (seinen Namen ändert er erst Anfang der dreißiger Jahre) bei Edmund Husserl, einem der führenden Vertreter wenn nicht Begründer der Phänomenologie. Die angestrebte Hochschulkarriere bleibt ihm jedoch versperrt, seine Habilitation wird in Frankfurt mit der Empfehlung verweigert, es in einem Jahr wieder zu versuchen, „wenn der Nazi-Spuk vorbei ist“.

Für eine kurze Zeit arbeitet Anders als Feuilletonredakteur, schon im ersten Monat nach der Machtübernahme der Nazis muß er dann aus Deutschland fliehen — die Gestapo hat seinen Namen in Brechts Adreßbuch gefunden. Zwei Jahre später folgt ihm seine Frau Hannah Arendt. Aber in Frankreich ist kein Platz für die zahlreichen Emigranten aus Deutschland, sie dürfen nicht arbeiten und bleiben immer die boches.

Anders geht 1935 in die USA. Im Gegensatz zu den Mitarbeitern des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“, deren philosophische und soziologische Schriften auffällige Parallelen zu Anders' Werk aufweisen und unter dem Namen „Frankfurter Schule“ Geistesgeschichte machen sollten, ist Günther Anders finanziell nicht abgesichert und schlägt sich mit odd-jobs durchs Leben. Unter anderem arbeitet er am Fließband einer Fabrik in Los Angeles und als Reinigungskraft in einem Kostümverleih. Die dort gemachten Erfahrungen begreift er rückblickend als „Chance der Misere“, die er nicht missen möchte.

Außer ein paar Gedichten in der deutschsprachigen Emigrantenzeitschrift 'Aufbau‘ kann Anders in den USA nichts veröffentlichen. Wie ein Großteil seiner Leidensgefährten schreibt er, für die Schublade, Texte, die für die in Deutschland Gebliebenen nach dem Ende des Nationalsozialismus bestimmt sind, in der irrigen Annahme, daß Interesse an Analysen und Erklärungsansätzen bestehen würde.

Der Aufenthalt in den, im Gegensatz zu Europa, technologisch wesentlich weiter entwickelten USA, beeinflußt Anders' philosophische Konstrukte entscheidend. Ein Ausdruck ihres eigenen Kulturschocks und ihrer Hilflosigkeit ist für die deutschen Emigranten der utopische Roman Brave New World des Engländers Aldous Huxley. Hier wird ein Außenstehender, ein Fremdling aus einer anderen Welt, mit den Produkten und Sozialstrukturen eines Zukunftslandes konfrontiert: den Medien, der Massenkultur, der verordneten Zerstreuung und der Omnipotenz der Produkte. In diesen Jahren entwickelt Anders die Grundpfeiler seiner Philosophie, die sich jenseits aller Lehrmeinungen bewegt. Denn sie überschreitet die Grenzen der Kommentierung, verbannt den Menschen vom Zentrum philosophischen Denkens an die Peripherie und hat den Anspruch, in Ereignisse und Entwicklungen einzugreifen, zum Handeln anzuregen. Der Appell ist „schizophren“, weil Aktivität letztendlich nichts bewirken wird, wie Anders immer wieder betont. Wenn man nach einer Etikettierung seiner Schriften suchen würde, so müßte man sich an seine eigene Bezeichnung halten: „Gelegenheitsphilosophie“. Alltagsbeobachtungen werden wie in einer „umgedrehten Allegorie“ zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, der eigentlich immer wieder zu der einen These führt: daß wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen können, und daß wir den monströsen, von uns erdachten und entwickelten Produkten nicht mehr gewachsen sind.

Am 11.März 1942 notiert Anders in seinem Tagebuch: „Glaube, heute vormittag einem neuen Pudendum auf die Spur gekommen zu sein, das es in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Ich nenne es vorerst für mich ,Prometheische Scham‘ und verstehe darunter die Scham vor der ,beschämend‘ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge. Schloß mich mit T. einer Führung durch eine hier eröffnete technische Ausstellung an. T. benahm sich aufs eigentümlichste, daß ich schließlich nur noch ihn beobachtete statt der Apparate. Sobald nämlich eines der hochkomplizierten Stücke zu arbeiten begann, senkte er seine Augen und verstummte. — Noch auffälliger, daß er seine Hände hinter seinem Rücken verbarg, so als ob er sich schämte, diese seine schweren, plumpen und obsoleten Geräte in die hohe Gesellschaft der mit solcher Akkuratesse und solchem Raffinement funktionierenden Apparate gebracht zu haben. ... T. schämt sich, geworden statt gemacht zu sein.“ Mit dieser Aufzeichnung läßt er den ersten Band der Antiquiertheit des Menschen — Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution beginnen, eine Beschreibung der „A-Synchronisiertheit“ des Menschen zu seiner Produktwelt, der er sich immer weniger gewachsen zeigt.

Hier vollzieht sich der Bruch mit der traditionellen Philosophie, schon deshalb, weil die Beziehung zwischen „Herstellen“ und „Vorstellen“ nicht mehr ein theoretisches Problem darstellt, sondern praktische Konsequenzen hat. Nicht mehr das erkennende Ich steht im Mittelpunkt philosophischen Denkens, sondern die Technik und ihre Geräte als Motor und Subjekt der Geschichte. Selbst der Begriff „vorstellen“ verstellt für Anders den Blick auf die Realität, denn die verwirklichten Gegenstände sind da, so daß der Vorstellende zum Nachstellenden wird, und selbst zu dieser geistigen Leistung ist er nicht fähig.

Neben signifikanten Erscheinungen des Amerika der dreißiger und vierziger Jahre wie etwa die Macht der Autos, die Schablonisierung des Menschen, der immer verzweifelter versucht, seinen Produkten zu ähneln, ist das Fernsehen für den Gast aus Europa eine beängstigend neue Erfahrung. In seinen Untersuchungen Die Welt als Phantom und Matrize, die heute noch von bestechender Aktualität sind, werden düstere Dimensionen vor uns ausgebreitet: Die Illusion der Verfügbarkeit der Technik muß begraben werden, ebenso die vertraute Einteilung in Mittel und Zweck. Grenzen verwischen, wie die zwischen den vermittelten Informationen und der Realität bis hin zu der revolutionären These, daß auf dem Bildschirm sich das Original nach der Reproduktion zu richten habe. Günther Anders zeichnet das Bild des Massenkonsumenten, der allein und autistisch vor seinem Gerät sitzt, sein kommunikationsloses Eremitenschicksal mit Millionen teilend. Die Welt als ins Haus gelieferte Ware kann vom Sessel aus erkundet werden, erscheint als Bild und Phantom, durch einen Knopfdruck zum Verschwinden verurteilt.

Als am 6.August 1945 die Atombombe auf Hiroshima fällt, sieht sich Anders außerstande, auf das Ereignis zu reagieren, weil sein „Vorstellen“ sein „Denken“, sein Mund und seine Haut „vor der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse streikte“. Erst Jahre später schreibt er seinen Aufsatz Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit. Nach Hiroshima ist nichts mehr wie zuvor, unser „Dasein unter dem Zeichen der Bombe eine terra inkognita“. Auch für die Philosophie hat das Konsequenzen, sie kann lediglich Orientierungshilfe im unbekannten Gelände sein. Hiroshima und die daraus abgeleitete Erkenntnis, daß die Auslöschung der Menschheit ernsthaft zur Disposition steht, hat Anders zum Zentrum seines Denkens und Handelns gemacht. Und spätestens hier verläßt er den Elfenbeinturm des Gelehrten. Hiroshima wird zum Endpunkt jeglicher Geschichte, auch der Metaphysik, denn die Bombe, die Hiroshima traf, war ein „Sprung ins Absolute“. Um überhaupt „das Ohr des anderen zu errreichen“, muß Anders übertreiben. Sein zuweilen panischer, fast pastoraler Ton ist ihm häufig zum Vorwurf gemacht worden. Man stempelt Anders zum Panikmacher, wirft ihm seine zutiefst depressiven Schlußfolgerungen vor, spricht von Abrüstungsverhandlungen, dem Zusammenfall der Machtblöcke und ...hat ihn nicht verstanden. Denn für Anders reicht die bloße Idee der Atombombe aus, um sie zu einer ständigen Bedrohung, einem Erpressungsmittel der ganzen Menschheit zu machen.

Sein Engagement in der Anti- Atombewegung und sein moralischer Duktus haben ihm des öfteren die falschen Verbündeten eingebracht. Besonders Pfarrer haben den Agnostiker Anders für sich vereinnahmen wollen. Mit der deutschen Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre hat er es sich schnell verdorben, vom „Händchenhalten in der Menschenkette“ und vom „Fasten für den Frieden“ hält er nichts, das seien „happenings“, Scheinhandlungen, die die Verantwortlichen und Dummen nicht zur Änderung ihres Verhaltens zwingen können.

Günther Anders ist in die „Praxis desertiert“, ein unverzeihlicher Fehler in den Augen seiner philosophierenden Kollegen, wie er im Vorwort zur AntiquiertheitII vermerkt. Und die strafen ihn mit Nichtachtung, nur selten kann man an den Universitäten Seminare über Anders besuchen, wenngleich eine Beschäftigung mit seinen Schriften einen fruchtbaren Erkenntnisprozeß in Gang setzen könnte: „Nicht im Zeitalter des Materialismus leben wir, wie alle Banausen klagen, sondern im zweiten platonischen Zeitalter. Erst heute, in der Epoche der Massenindustrie, kommt dem einzelnen Objekt tatsächlich ein geringerer Seinsgrad zu als seiner Idee, nämlich seinem blue- print.“ Und wenn es stimmt, daß Idee und Wirklichkeit heute ihre Plätze vertauscht haben, dann leuchtet ein, daß es nicht mehr genügt, “...die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin... Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht ohne uns verändere.“ Interpretieren durch Umdrehen, Entstellen, Verfremden und die Technik des veränderten Blickwinkels: den „Blick vom Turm“, „vom Mond“, wo die Erde als wunderschöner verlorener Planet im Weltall schwebt. Interpretieren, das ist schreckhafte Erkenntnisprovokation, aus der ein politischer Einspruch gegen den Lauf der Welt resultieren soll, in der Menschen „bewußtlos“ und „blind“ Geschichte machen.

Die Bücher von Günther Anders sind im Beck-Verlag erschienen. Biographisches erfährt man aus dem Band Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Hg. Elke Schubert, Edition Tiamat Berlin. Im August erscheint eine Rowohlt-Monographie über Anders von Elke Schubert.

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