: Postkarte der Gewalt
Cabrera Infante beschreibt, illustriert, erdenkt die Geschichte Kubas ■ Von Katharina Döbler
Als der Roman „Drei traurige Tiger“ mit 23jähriger Verspätung endlich in Deutschland eintraf und vielfach begeistert willkommen geheißen wurde, eilte dem Autor Guillermo Cabrera Infante international schon der zweifelhafte Ehrentitel „kubanischer Joyce“ voraus. Solche Vergleiche sind immer ungerecht. Aber welches Etikett kann man einem so sprachverliebten Schreiber wie Cabrera Infante schon aufkleben, der mit seinen Wortspielereien quer durch die Literaturgeschichte marodiert und parodiert, und jede griffige Form sprengt? Immerhin: daß „Drei traurige Tiger“ als Roman, wenn auch ein sehr eigenartiger, zu gelten hatte, darauf konnte man sich einigen.
Das nun (nach nur 18 Jahren) auf deutsch vorliegende Werk „Ansicht der Tropen im Morgengrauen“, macht es für die Klassifizierer noch schwieriger. Der Suhrkamp-Verlag legte sich klugerweise gar nicht fest, in der spanischen Originalausgabe bei Seix Barral/Barcelona von 1974 sind es „Erzählungen“, GCI selbst spricht meistens von Vignetten (vinetas), und manche bestehen darauf, daß es ein Roman sei. Ich empfehle, sich einfach an den Titel zu halten: dieses Buch ist eine Postkarte. Und zwar eine von jenen — leider im Aussterben begriffenen — Postkarten, die in vielen kleinen Kästchen verschiedene Ansichten eines Ortes zeigen. Es ist eine Postkarte von der Insel Kuba, geschrieben von einem Emigranten aus dem Exil. Wie jemand, der aus dem Koffer oder seinem persönlichen Schuhkarton, der ihn ein Leben lang begleitet hat, alte Bilder und Erinnerungsfetzen hervorzieht, erzählt GCI seine fünfhundertjährige kubanische Geschichte in Schnappschüssen, Anekdoten, Pressefotos, Anmerkungen, Charakterskizzen, Zeitungsausschnitten, mündlichen Überlieferungen und alten Stichen. „Auf dem Kupferstich sieht man die Hinrichtung oder eher die Folterung eines Indianerhäuptlings...“
Sprache illustriert die Bilder, statt umgekehrt; wir, die Zuhörer, sind blind, angewiesen auf den, der sie beschreibt.
Er beschreibt Motive der Gewalt, angefangen („Aber vor dem weißen Mann waren die Indianer da“...) mit der Conquista, über die Aufstände der Kolonialzeit, den Kampf um die Unabhängigkeit, die Rebellionen gegen einheimische Diktatoren, denen die vermeintlichen Befreier als neue Diktatoren folgen, die Revolution, bis hin zum Widerstand gegen das neue Regime. Guerilleros, Soldaten, Commandantes, Polizisten, Generäle, Henker, und Strategen: die Fauna des Kriegertums.
Fortschritt ist in dieser Serie von Gewalttätigkeiten allenfalls eine Sache von verbesserten technischen Mitteln zu ihrer Dokumentation. Ob Kupferstich oder Tonband: auf der traurigen tropischen Insel („In welchem Land der Welt gibt es eine Provinz namens Matanzas, das heißt Gemetzel?“) wird in einem endlosen Morgengrauen gekämpft und gestorben, für ein besseres Morgen, das nicht kommt: Morgengrauen als historischer Zustand über fünf Jahrhunderte.
(„Ansicht des Morgengrauens in den Tropen“ wäre die korrekte Übersetzung des spanischen Originaltitels gewesen. Welchem seltsamen Kalkül höherer Übersetzerkunst (oder Verlagsstrategie?) das deutsche Leserpublikum die sinnentstellende Verdrehung zu verdanken hat, ist mir ein Rätsel.)
„Die Fakten sind zwar manchmal der Realität entnommen, werden dann aber immer als imaginär behandelt“, heißt es in der Vorbemerkung zu „Drei traurige Tiger“. In „Ansicht“ stellt GCI dieses Konzept auf den Kopf: denn die Fakten sind zwar manchmal imaginär, werden aber immer als real behandelt.
Die verwendeten „historischen Dokumente“ verdanken ihren authentischen Charakter einer perfekten sprachlichen Mimikry, die den beiläufigen Klang gesprochener Sprache ebenso getreulich nachzuahmen weiß wie den stöckernen Duktus von Schullesebüchern, wie die phonetische Poesie karibischer Umgangssprache, wie den denunziatorischen Tonfall historischer Anekdötchen. („Der General fragte, wie spät es sei, und ein Adjutant kam schnell herbei und flüsterte ihm zu: ,So spät, wie Sie wünschen, Herr Präsident.‘“)
Jede der in sich geschlossenen Vignetten — imaginär oder nicht — hält sich streng an die Ereignisse, wie sie im Augenblick gerade stattfanden, ohne Interpretation, ohne historische Rechtfertigung, anonym, lapidar.
GCI ist kein Anhänger von literarischem Naturalismus — „zoologischem Realismus“, wie er es angewidert nennt — er ist nur einer, der die Fotografien, die er vorlegt, genau ansieht. „Fotografien haben die gespenstische Eigenschaft, real zu erscheinen und gleichzeitig reine, festgehaltene Nostalgie zu sein“, sagte er in einem Interview. Sein Blick ist nicht unbeteiligt, aber frei vom in der Geschichtsschreibung üblichen Pathos. Und ein Heldentod ohne Pathos ist nur noch ein (gewaltsamer) Tod, eine Heldentat nichts als eine Gewalttat.
Ein Filmausschnitt mit O-Ton zeigt die Hinrichtung eines Generals (einer von vielen Generälen, eine von vielen Hinrichtungen) als Posse:
„,Also, muchachos‘, sagte der General mit lauter Stimme, aber in herzlichem Ton, ,ich laß euch jetzt mit eurer Revolution allein.‘ Er sprach seine letzten Worte aus, als halte er einfach eine Tischrede: ,Ich hoffe, ihr habt euren Spaß dran.‘“ Daraufhin kippt der Mann slapstickmäßig jählings aus dem Bild.
GCIs Galgenhumor funktioniert ironisch wie eine Falltür, die den Sturz freigibt in die traurige Lächerlichkeit, die Absurdität der heroischen Pose.
„Als man der Mutter des Generals mitteilte, er habe sich ergeben, erwiderte sie, das sei nicht ihr Sohn. Als man ihr erklärte, er habe sich vor der Gefangennahme eine Kugel in den Kopf gejagt, sagte sie: Ah, dann ist es doch mein Sohn.“
Dieselbe Anekdote findet sich auch in dem Essay über die Ideologie des Selbstmords, in dem GCI sämtliche Nationalhelden Kubas als Selbstmörder charakterisierte.
(Man könnte die vielen Commandantes in „Ansicht“ auch als Imago des ewigen Rebellen, des in Macht und Tod verliebten Macho begreifen und das Buch als Roman notorischen Heldentums lesen.)
„Ansicht der Tropen im Morgengrauen“ ist aber mehr als eine gelungene Demontage sinnstiftender Historisiererei, es ist, bei aller Gewalt, von der es handelt, bei aller Ironie, derer es sich bedient, ein poetisches und trauriges Buch. Seine spezielle lyrische (ja, doch!) Qualität liegt in dem beschwörenden Puls, der rhythmischen Kreisbewegung seiner Sprache, die immer wieder auf ihren Anfang zurückkommt. Wilfried Böhringer, der geniale Wortspielübersetzer, hat den Rhythmus dieser Sprache wunderbar übertragen; manche Passagen von extremer Schlichtheit sind ihm allerdings etwas verfeinert geraten.
Die ersten Vignetten entstanden schon Anfang der sechziger Jahre, während GCI — als Vorstufe zum Exil — auf einem Diplomatenposten in Belgien saß, nachdem er in Kuba als Journalist kaltgestellt war und seine Zeitschrift 'Lunes‘ nicht mehr erscheinen konnte.
GCI ging 1965 endgültig ins Exil, mit seinen Vignetten im Koffer und dem Postkartentitel im Kopf. Die jetzt vorliegende Fassung der „Ansicht“ hat eine lange Geschichte: noch 1988 hat er daran gearbeitet, hinzugefügt, verändert. Geblieben ist, über die ganzen Jahre des Exils, das Bild Kubas, wie es am Ende des Buches noch einmal heraufbeschworen wird: „Diese langgestreckte, traurige, unglückselige Insel wird auch... nach dem letzten Kubaner noch da sein.“ So verabschiedet GCI seine Leser mit einer hintergründigen Hommage an Papa Hemingway, dem er schon in den „Traurigen Tigern“ eine bissige Karikatur widmete. Hemingways langgestreckte Insel ist „schön“ und nicht traurig. Er kannte GCIs Postkarte nicht.
Guillermo Cabrera Infante: „Ansicht der Tropen im Morgengrauen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1992, geb. 186Seiten, 36DM.
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