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SPD krankt an Altersschwäche

In Neuss diskutierten SPD-Funktionäre den traurigen Befund einer Mitgliederbefragung/ Sozis hoffen auf „Bedürfnis nach Politik live“/ Mitglieder erwarten „mehr direkte Demokratie“/ Parteiaustritte und Überalterung quälen die Partei  ■ Aus Neuss Walter Jakobs

Früher haben sie sich gestritten, über Helmut Schmidt und die Pershings, über Stamokap, Berufsverbote und Atomkraftwerke. Manches Mal ging die Schlacht in den Ortsvereinen bis weit nach Mitternacht. Das war einmal. „Früher“, so sagt Bernhard Thiel vom SPD-Unterbezirk Neuss, „war der Ideologiestreit von hohem Unterhaltungswert. Doch da ist heute die Luft raus.“ Vor allem diejenigen, die über die Studentenbewegung zur SPD stießen, sind nach Thiels Beobachtung abgetaucht: „Die haben inzwischen das Privatleben entdeckt.“ Während die einen sich zurückziehen oder austreten, pflegt der kleine aktive Kern der Partei vor Ort die unauffällige, leidenschaftslose Parteiarbeit — mit nachhaltigen Folgen. „Das lokale Parteiprofil, das die Mitglieder und Funktionsträger von der SPD zeichnen, ist ziemlich flach“, heißt es in einer repräsentativen Mitgliederbefragung, die die Münchener Gesellschaft für Politik- und Sozialforschung (polis) im Auftrag des SPD-Parteivorstands durchgeführt hat. Am Dienstag diskutierten die nordrhein-westfälischen SPD-Funktionäre in der Neusser Stadthalle mit dem Geschäftsführer von polis, Horst Becker, den wenig erbaulichen Befund.

Der Wandel in der SPD-Mitgliedschaft verläuft dramatisch. Die SPD hat laut Becker „kaum noch junge Mitglieder“. Nur fünf Prozent der Parteimitglieder sind unter 25 Jahre. Inzwischen ist jedes vierte SPD-Mitglied im Ruhestand. Bundesweit ging die Mitgliederzahl im letzten Jahr von 937.700 auf 919.900 zurück. Vom Schwund wurde das vermeintliche Sozi-Stammland NRW besonders hart getroffen. Knapp 14.000 Mitglieder verlor die Partei dort im letzten Jahr — ein Abflauen der Austrittswelle ist nicht in Sicht. Von den am 1.1.1992 gezählten 273.140 GenossInnen setzten sich allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres zwischen Rhein und Weser weitere 5.000 ab. Selbst Ernst Walsken, der zusammen mit Bernhard Kasperek die Landesgeschäftsführung von dem erfolgreichen Bodo Hombach übernommen hat, spricht davon, daß die Parteiorganisation „wirklich in einen sehr kritischen Zustand“ geraten sei.

Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing werkelt unter dem Stichwort „SPD 2000“ an einer Organisationsreform, die der Bundesparteitag 1993 beschließen soll. Durch ein Mehr an „direkter Demokratie“ hofft man die Identifikation und Bindungswirkung von Neu- und Altmitgliedern verbessern zu können. 36 Prozent der heutigen SPD-Mitglieder sind der Partei erst in den Jahren nach der politischen Wende in Bonn (1983) beigetreten. Gerade diese Neumitglieder, so Horst Becker nach Auswertung der Mitgliederbefragung, erwarten mehr Beteiligungsrechte. Becker wörtlich: „Da kommt jetzt eine Partizipationsgeneration in die Partei.“ Allein in den letzten zwei Jahren hat es 60.000 neue Mitglieder gegeben. Während die einen kommen, wenden sich die anderen ab. Becker: „Die Linksintellektuellen früherer Zeiten finden sich in dieser Partei nicht mehr zurecht. Akademiker haben sich aus der Partei mehr als andere zurückgezogen. Der Vorwurf oder das Lob, die SPD sei eine Akademikerpartei, stimmt nicht mehr.“

Die Verunsicherung sitzt tief in der SPD. „Wir spüren alle, daß die alten Parteiveranstaltungen nicht mehr ankommen“, sagt der Düsseldorfer Fraktionsvorsitzende Friedhelm Farthmann, aber „wenn der Inhalt der Politik gut ist, läuft es fast von selbst“. Doch genau daran mangelt es der SPD. Orientierungslosigkeit herrscht vor. „Das normale Mitglied guckt nach oben, doch von da kommen keine Vorgaben“, beschreibt ein SPD-Funktionär die Misere. Das mangelnde Zutrauen in die SPD-Führung schlägt sich in nahezu allen Umfragen nieder. Vom dramatischen Vertrauensverlust der Bonner Regierung kann die SPD bislang nicht profitieren, weil, so Horst Becker, „noch keine massive Hoffnung“ in die Lösungskompetenz der SPD vorhanden sei. Den gewaltigen Herausforderungen durch den Umbruch im Osten stehen Parteiführung, -mitglieder und Wähler gleichermaßen verunsichert gegenüber. Hier ist die SPD nach Meinung des Landesgeschäftsführers Bernhard Kasperek gefordert, gerade jetzt „Zusammenarbeit und Bündnisse“ zu organisieren. „Das heißt zusammenführen, das heißt Konflikte und Interessengegensätze so zu moderieren, daß das Wohl des Ganzen gewahrt bleibt.“

So ganz ohne Hoffnung sind die SPD-Funktionäre in NRW nicht. Aus Bonn und Münster kam die Kunde von einer erfolgreichen Reaktivierung der Basis. Auf großen Zuspruch stieß hier die von der Partei initiierte, an Themen wie Verkehr oder Müll orientierte Projektgruppenarbeit. Weitere Vitalisierungsrezepte: Öffnung der Partei für Nichtmitglieder und Urwahl lokaler Spitzenkandidaten. Ewig anhalten wird die Flucht aus den Parteien nach Meinung des Sozialforschers Becker ohnehin nicht: „Bald wird es wieder ein Bedürfnis nach Politik live geben“, weil der Politikkonsum via Glotze vielen auf Dauer nicht reichen werde.

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