: Europas Türen für Flüchtlinge geschlossen
■ Als letztes Nachbarland will jetzt auch Ungarn keine weiteren Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina aufnehmen/ Einrichtung von Lagern in Ex-Jugoslawien geplant/ Einsatz des Nato-Frühwarnsystems AWACS bestätigt
Zagreb/London (AFP/taz) — Eine äußerst absurde Situation ist in Bosnien-Herzegowina entstanden. Während die Welt über ein militärisches Eingreifen in Ex-Jugoslawien nachdenkt, die Kontrolle des UNO- Embargos gegen die Belgrader Regierung und weitere Hilfsflüge organisiert, hat man die zweieinhalb Millionen Flüchtlinge offenbar ganz aus dem Bewußtsein verdrängt. Kaum ein europäisches Land ist noch bereit, ihnen Zuflucht zu gewähren. Nach Dänemark, der Schweiz, der BRD, Schweden und Österreich hält mit Ungarn nun auch das letzte Nachbarland seine Türen für die Hilfesuchenden fest verschlossen. Ab sofort, erklärte gestern das Innenministerium in Budapest, werde Ungarn keine bosnischen Flüchtlinge mehr aufnehmen, die von Kroatien abgeschoben wurden.
Die Begründung: Auch die kroatische Regierung nehme keine bosnischen Flüchtlinge mehr auf und schicke sie anstelle dessen in Drittländer. Offenbar befürchtete Ungarn nun einen Massenandrang. Vor der Entscheidung hatten in Budapest ungarische und österreichische Experten die Flüchtlingssituation erörtert. Insbesondere durch die Einführung des Visumzwanges durch Österreich, so die Meinung, sei eine für Ungarn schwierige Lage entstanden.
Deshalb wollen sich Österreich und Ungarn nun gemeinsam für eine „sichere Unterbringung der Flüchtlinge“ einsetzen. Aber bitte nicht auf eigenem Territorium. Geplant sind vielmehr Lager, die unter der Aufsicht von UNO-Friedenstruppen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien errichtet werden sollen.
UNO-Generalsekretär Butros Ghali mußte unterdessen zugeben, daß das „humanitäre Problem“ der Flüchtlinge „von allen unterschätzt“ werde. In der gestrigen Pariser Libération schlug Ghali vor, dem UNO-Sicherheitsrat eine schnell einzusetzende Truppe für Einsätze zur Erhaltung des Friedens zur Verfügung zu stellen.
In London hat gestern der britische EG-Vermittler Carrington seine Gespräche mit Führern der Konfliktparteien in Bosnien-Herzegowina wiederaufgenommen. Erstmals seit zwei Monaten traf er zunächst mit dem Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, zusammen. Dabei kam es zumindest verbal zu Zugeständnissen der Serben. Karadzic erklärte nach der Konferenz mit Carrington, er habe der Einrichtung eines Landkorridors für Hilfskonvois nach Bosnien zugestimmt und garantiere die Sicherheit von Transportflugzeugen. Außerdem sei Serbien zu einer einseitigen Waffenruhe bereit. Anschließend gab es Gespräche mit dem moslemischen Politiker und bosnischen Außenminister Haris Silajdzic sowie mit dem Kroatenführer Mate Boban. Die Gespräche sollen „zwei oder drei Tage“ dauern.
Im Anschluß an die Vermittlungsgespräche von Lord Carrington soll auch der portugiesische Diplomat José Cutileiro mit den Führern der Konfliktparteien verhandeln. Cutileiro erklärte sich bereit, als Botschafter zwischen den Verhandlungsparteien hin- und herzupendeln, da es die Führer der drei Bürgerkriegsfraktionen ablehnten, sich direkt zu den Gesprächen zu treffen.
Die Nato hat unterdessen bestätigt, daß bereits seit einigen Tagen der Luftraum über dem ehemaligen Jugoslawien durch das luftgestützte Überwachungssystem AWACS kontrolliert wird. Man wolle sich, hieß es dazu in Brüssel, ein möglichst genaues Bild von den Flugbewegungen im Adriaraum machen.
Das 1978 in Gang gesetzte und seit den 80er Jahren routinemäßig im Ost-West-Konflikt eingesetzte AWACS-System der Nato besitzt die Fähigkeit, weit in einen Überwachungsraum „hineinzuschauen“. Es besteht aus mehr als zwei Dutzend Flugzeugen, die mit umfangreicher Kontrollelektronik ausgestattet sind und auf ihrem Rücken ein leistungsfähiges Radargerät tragen. Sie können aus ihrer Operationshöhe von mehr als 10.000 Metern Flugbewegungen in 500 und mehr Kilometern Entfernung registrieren und vor allem vor tieffliegenden Maschinen warnen. Dieses luftgestützte System wird durch entsprechende Bodenanlagen ergänzt, die im jugoslawischen Einsatzgebiet dem Vernehmen nach auf Schiffen stationiert sind.
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