Die Geburt des Konsenses aus dem Geiste des Palavers

Der afrikanische Philosoph Ntumba zu Gast bei den „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ in Oldenburg  ■ Von Reinhard Kahl

Wer eine deutsche Universität betritt, dem fällt nichts mehr ein, außer Ralf Dahrendorfs endgültigem Diktum über diese Anstalt. Dahrendorf will über unsere Universitäten nur noch schweigen. Er habe keine Worte mehr für diesen Abgrund an Kulturlosigkeit, dieses schwarze Loch, in dem Gespräche kaum noch möglich seien, wo die Vernachlässigung der Lehre die Grenze zur strafrechtlichen Relevanz schon überschritten habe. Da wir aber nicht wie Sir Ralf an ein College in Oxford emigrieren können, ist Schweigen keine Lösung. Und die eintönige Wiederholung der vernichtenden Diagnose über die Universität, die keine Alma mater mehr ist, führt auch nur in eine andere Emigration, in die nach innen oder an den PC. So wird aus dem Bewußtsein der Katastrophe doch wieder nur katastrophales Bewußtsein.

Nur gut, daß es einige Lichtblicke gibt. Einer der wenigen ist eine Einrichtung an der Universität Oldenburg, die „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“. Finanziert wird dieses Kleinod über die Stiftung Niedersachsen aus Lottogeldern. Inspiriert wird diese Akademie in der Hörsaalödnis von Rudolf Prinz zur Lippe, Professor für praktische Anthropologie und Ästhetik. Jedes Semester kommt ein Wissenschaftler nach Oldenburg, der dort als Gastprofessor Vorlesungen und Seminare hält, sich mit Studenten zum Frühstück trifft und mit geladenen Gästen ganze Wochenenden diskutiert. An einem Abend gibt es fünf Gänge, wie beim antiken Symposium, das ja ein Gastmahl war.

Die Liste der Gastprofessoren seit 1989 ist stattlich: Carl Friedrich von Weizsäcker, Hans Georg Gadamer, Ivan Illich, Humberto Maturana und nun Marcel Tshiamalenga Ntumba aus Zaire.

Die Drittmittellehre in Jaspers Namen ist freilich nicht nur Nothilfe aus Stiftungsprofession. Diese Vorlesungen und Colloquien, diese Frühstücke mit Studenten, zu denen außer dem Gastprofessor kein Dozent Zutritt hat, damit zwanglos gesprochen werden kann, diese Symposien, bei denen ebenso gut gegessen und zugehört wird wie gesprochen, diese Veranstaltungen sind nichts mehr und nichts weniger als der Versuch, wieder einen Freiraum für das Selbstverständliche in der Lernfabrik zu schaffen: Gesprächskultur jenseits der Stundenpläne und der Gegenstandskataloge für Prüfungen, den herrschenden Ritualen des Scheinstudiums.

Rudolf Prinz zur Lippe, Schüler von Adorno und Karlfried Graf Dürkheim, Autor von Büchern über Sinne und Sinnenbewußtsein, ist ein Aristokrat, der in die plebejische Lernfabrik eigentlich nicht paßt. Dort muß alles flächendeckend sein, oder es darf nicht sein. Der Aristokrat ist die richtige Kontrastfigur, an der die Einfalt sozialbürokratischer Planung evident wird. Millimeterpapier ist eben doch keine Utopie. Lippe sagt: „Wir können wenig tun, aber wir können versuchen, Gesprächen wieder ihre Eigenzeiten einzuräumen. Dann machen wir bei unseren Veranstaltungen ganz lustige Entdeckungen. Die großen Vorlesungen dauern viel länger als üblich. Die Menschen fangen erst an, wirklich zuzuhören, wenn die Dreiviertelstunde vorbei ist, weil man vorher immer darauf wartet, wieviel kann der eigentlich bis zum Ablauf seiner Zeit noch sagen. Dann setzt plötzlich Ruhe ein.“ Und die Ruhe wird dann für aufregende Debatten genutzt. Zum Beispiel an drei Wochenenden im Juni und Juli. Im Anschluß jeweils an ein Colloquium in der Universität mit dem afrikanischen Philosophen Marcel Tshiamalenga Ntumba hatte Rudolf zur Lippe 15 Wissenschaftler, Philosophen und Autoren in seine Wohnung im Abthaus des ehemaligen Klosters Hude geladen. Vorlesungen und Colloquien sind öffentlich, nicht nur für die Universität. Als im vergangenen Semester der chilenische Theoretiker der Selbstregulierung Humberto Maturana in Oldenburg lehrte, kamen freitags ganze Gruppen mit dem Flugzeug aus München oder Berlin nach Oldenburg.

Nach dem öffentlichen Colloquium also lädt Rudolf zur Lippe zu Gesprächen in seine Wohnung ein. „Wer von geladenen Gästen zu uns kommt, ohne einen großen, später publizierten Vortrag zu halten“, meint Professor zur Lippe, „der ist selbst erwählte Elite, nämlich zuhören zu können.“ Stimmt.

So saßen wir unter der Linde in Hude, nicht nur redend, sondern vor allem zuhörend; sogar Perlhühner und Pfauen im Garten folgten der Gruppe auf die Terrasse und horchten starren Blicks mit schiefem Hühnerkopf. [tief beeindruckt von soviel erlauchtheit — ergebenst: die plebejerin aus der kochstr.18] Man kam sich vor wie beim heiligen Franz von Assisi, auch ohne Taufschein. Der Philosoph Marcel Tshiamalenga Ntumba aus Zaire stellte seine Philosophie des Wir zur Diskussion, die er aus der afrikanischen Tradition des Palavers entwickelte und gegen den selbstherrlichen abendländischen Ich-Kult setzt.

„Die Afrikaner gingen jeden Morgen sehr früh arbeiten, um zu überleben. Dann kamen sie nach Hause zurück, so ab zehn, elf Uhr, haben gegessen, und meistens gab es eine Sitzung des sogenannten Palavers. Ich bezeichne das Palaver als eine Allkompetenz-Diskurs-Institution.“ Philosophieprofs und andere Wissenschaftler aus Berlin, Darmstadt, Frankfurt und Wien hörten fasziniert und auch erstaunt zu.

Marcel Tshiamalenga Ntumba hat in Frankfurt bei Karl Otto Apel und Jürgen Habermas studiert. Dort hat er verstanden, daß die moderne europäische Philosophie jenes Wir als Transzendentalpragmatik mühsam wiederentdeckt, das uns in unserem Leben abhanden gekommen ist. Wittgenstein sagt: „Es gibt keine Privatsprache.“ Sprache setzt immer voraus, daß es ein Wir vor dem Ich gibt. Das einsame Ich ist nicht schöpferisch, es ist eher ausbeutend.

Das Palaver in Afrika gehört vielleicht zu den Höhepunkten der Weltkulturen. Es ist jedenfalls nicht das, was wir abfällig „Palaver“ nennen: folgenloses Gerede. Im afrikanischen Palaver ist immer gegenwärtig, was wir uns in Europa auf theoretischen Umwegen mühsam vergegenwärtigen müssen: das Bewußtsein, daß wir Gattungswesen sind, sprechende Tiere mit der Fähigkeit, sich zu erinnern und Utopien zu entwickeln. Unsere abendländische Tradition hat gegenüber dem polyphonen Palaver eher das Selbstgespräch kultiviert. Rituale und Feste, also Formen, in denen sich Gemeinschaft herstellt, werden vernachlässigt. Statt dessen flüchten wir immer mehr in die Arbeit und belohnen uns mit Konsum. Beides verträgt die Welt nicht. M.T. Ntumba hält der europäischen Kultur einen Spiegel vor: „Hier in Europa wird gesagt, die letzte Instanz in Sachen Moral sei das Gewissen, und das Gewissen ist das Ich. Bei uns ist das überhaupt nicht so: das Wir im Dialog, also im Palaver, entscheidet darüber, ob ein Palaver gut oder böse war. Ziel einer Palaversitzung ist immer, daß man zu einem Wir-Konsensus kommt. Nicht die Mehrheit wird gefragt, sondern der Wir-Konsensus.“

Die beispiellose Erfolgsgeschichte unserer abendländischen Zivilisation beruht nicht zuletzt auf unserem schlechten Gewissen. Tief eingraviert wurde uns das Gefühl, daß wir der Welt noch etwas schulden. Und wenn wir uns dann verausgabt haben, meinen wir etwas gut zu haben, dann melden wir unsere maßlosen materiellen Wiedergutmachungsansprüche an. Wir sind selten versöhnt. Versöhnung hingegen ist die Seele des afrikanischen Palavers. M.T. Ntumba vedeutlicht diese andere Kulturgrammatik am Umgang mit dem Verbrechen:

„Der Angeklagte wird nicht als ein Ich betrachtet und behandelt, sondern als Glied einer Großfamilie. Die ganze Großfamilie fühlt sich betroffen. Kein Mensch in der Bantukultur steht allein da. Hat denn die Großfamilie nicht etwa Probleme mit dem Täter? Hat die Großfamilie ihm etwa nicht die nötige Energie gegeben, die er braucht, um richtig zu handeln? Der Täter war nicht allein, als er was falsch machte. Gut. Dann kommt es zu einer Palaver-Sitzung, denn Gericht, Religion und Politik kennen keine Grenzen.“

Und am Ende des Palavers steht die Versöhnung. Selbst bei einem Mord. Die Großfamilie des Täters richtet ein Versöhnungsmahl mit der Sippe des Opfers aus. Die Philosophie des Palavers hat nichts gemein mit jenem Wir, das europäische Ohren zunächst assoziieren: kein Wir des Gleischschritts. Es ist ein Wir des Gesprächs, polyphon, keine oktroierte Corporate Identity, auch kein euphorisches, alle Grenzen wegschmelzendes Symbiose-Wir. Und so wie die Transzendentalpragmatik des afrikanischen Wir sympathische Resonanz in der neueren Sprachphilosophie findet, so ist auch die Versöhnungsmoral des Palavers mit den Denkweisen der systemischen Familientherapie verwandt. Familiäre Probleme lassen sich mit der Politik der Schuldzuweisung nicht lösen. Die Schuldzuweisung selbst ist das Problem.

Die Welt wird ein Dorf, ein vielfältiges hoffentlich. Wir gehen auf eine Weltkultur zu. Wird es uns gelingen, ein Wir zu entwickeln, mit Lust am Unterschied und Kraft zur Erfindung immer neuer Rituale, mit Lust auch an der Pflege alter Lebensweisen — und mit Ehrfurcht vor deren Weisheit? Oder wird die Ansammlung der Isolierten noch schneller die Ressourcen verzehren, die materiellen und die symbolischen? Nach uns die Mutation?

Der Afrikaner Marcel Tshiamalenga Ntumba wirbt für den Dialog der Kulturen, indem er diesen Dialog führt. Und das ist kein Austausch selbstherrlicher und lang bekannter Statements. Dialog ist, wenn jedesmal etwas Neues entsteht.

In Oldenburg konnte man einen Philosophen hören, der lacht, dauernd lacht, obwohl ihm zum Weinen ist, wenn er an Afrika denkt oder wenn er unser Gerede von der Umwelt hört. „Was man hier ,Natur‘ nennt, das finde ich schrecklich, auch Umwelt, wieso denn Umwelt? Um wen denn? Also ein Gefühl, das ein ,Wir‘ ist, zu dem auch die Natur gehört, Bäume und Tiere, erfüllt mich so stark, daß ich oft lachen muß. Ich glaube, Gott lacht auch viel, wenn er das hier alles sieht. Im Alten Testament heißt es, als Gott die Menschen in Babel sah, die dabei waren, einen Turm zu bauen, um Gott zu erreichen, da hat Gott gelacht. Warum müssen sie einen Turm bauen, er ist schon da.“

Der lachende Philosoph Marcel Tshiamalenga Ntumba ist nicht nur Professor, er ist auch katholischer Priester. Das hindert ihn aber weder am Denken noch am Lachen.

Überflüssig zu erwähnen, daß Marcel Tshiamalenga Ntumba in seiner Heimat nichts zu Lachen hat. Er steht auf einer Liste Oppositioneller, die Diktator Mobuto verfolgt.

M.T. Ntumba ist am 21.7. auch in der Universität Mainz, am 6.9. in der Universität Köln zu Gast.

Eine Studentenbefragung im Auftrag der Bundesregierung stellt fest: 80Prozent der Studierenden haben in ihrem Studium noch kein eingehendes Gespräch mit einem Dozenten gehabt, weder über fachliche Themen noch über persönliche Fragen.