: Stimmen aus Tag und Nacht
■ "Midnight Baby": Die Erinnerungen der Dory Previn im Kellner Verlag
im Kellner Verlag
„Midnight Babys gehen durchs Leben, ohne zu wissen, ob sie zu dem Tag vor Mitternacht gehören oder in den folgenden Tag aufbrechen wollen. Sie sind für immer gespalten“. In der Stunde Null geboren ist und bleibt Dory Previn ein „Midnight Baby“ und in ihrem gleichnamigen autobiographischen Buch wird das Motiv des Gespaltenseins ständig neu erlitten und beschworen.
Zurückzukehren in die ungewisse Chronologie der ersten Kindheitserinnerungen, das ist Dory Previn, 1927 in New Jersey als Tochter irischer Einwanderer und in ärmlichen Verhältnissen geboren, mit großer Intensität und spürbarem Seelenschmerz gelungen. Die erwachsene Frau, so schreibt Dory Previn im Vorwort, läßt „das Mädchen“ erzählen, jenes Wesen, das die Erinnerung an sich selbst erst eingefordert habe. Die Episoden werden durch Gedichte ergänzt oder gar in einer Art lyrischem Brennpunkt gebündelt.
„Mein Daddy sagt, ich bin nicht sein Kind“, beginnt ein Gedicht. Im Beisein des Kindes erzählt die Mutter der Schwägerin, daß „er“ nicht der Vater des gemeinsamen Kindes zu sein behaupte. Denn „er“, so ist später zu erfahren, kam aus den Schützengräben des Krieges als vermeintlich „steril“ zurück. Das Mädchen bleibt stumme Zeugin eines gestörten Vaters und einer Mutter, die ihrem Mann keinerlei Widerstand entgegenzusetzen vermag.
„Normalerweise schlug er mich nie, nur Mutter und Tiere“, resümiert die Erzählerin. „Daddy“, der „Kumpel“ bleibt immer unberechenbar, auch wenn er das Kind mit Ehrgeiz und Stolz zum singenden und steppenden Kinderstar der Provinzstadt trimmt. Als die Mutter schließlich wieder schwanger
1wird, sperrt „Daddy“ sie und die Kinder monatelang ins Eßzimmer.
„Ich hatte immer gemeint, ein Stück seiner Verstörtheit schwimme als Minidrache in meinen Adern“, schreibt Dory Previn im zweiten Teil ihres Buches, der den Titel „Stimmen“ trägt. Wegen Schizophrenie war „Midnight Baby“ Dory Previn, die in Hollywood jah-
1relang Erfolg mit ihren Songtexten und Filmmusiken hatte, mehrfach in Behandlung. Ihr sensibler, niemals aufdringlicher Dialog mit den allemal realen Stimmen der Vergangenheit und der Gegenwart ist unbedingt lesenswert. Mechthild Bausch
Dory Previn: „Midnight Baby“, Kellner Verlag
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