: Kelten gegen Autobahn
■ Hemleb inszeniert Hebbels „Gyges und sein Ring“ in Bochum
Während Christoph Nel seine Theater- und Konzertreise „Aufbrechen Amerika“ gelingen sah, während das Publikum links und rechts der Eisenbahn ein Piano in der Schafherde entdeckte, während es auf dem Schiff an einer Schleuse stand und links und rechts ein Chor zu ihnen sang, während das Publikum neben den Schienen ein Abendessen am Hafenbecken einnahm, während es einem Güterzug zusah, der Trompeter, Schweißer und duftendes Heu auf seiner Bühne von links nach rechts transportierte, während Barbara Nüsse im roten Schleiergewand auf der Schaukel unter einem Kran saß und rezitierte, sprach Judith Rosmair als Goldpfötchen in rotem Schleiergewand bitteren Ernst auf der Bühne des Schauspielhauses Bochum. Bitteren Hebbel, bittere Schuld und Sühne in der Tragödie „Gyges und sein Ring“.
Lukas Hemleb drohte die Konkurrenz eines Traumprojekts der Bochumer Symphoniker kreuz und quer durchs Ruhrgebiet. Drei Tage Erlebniskonzert unter Hochöfen, auf Kohlehalden, in Fabrikhallen — Hemlebs „Gyges“ war dagegen: Urmärchen, Archaik, archaischer noch als Industrieparks vor Sonnenuntergang mit Dvoraks Neunter am „Ende der Welt“. Letzteres opulenter; verzweifelter aber, moralinsaurer waren Hebbels 19.-Jahrhundert-Verstrickungen.
Zwei alte, ehrwürdige Bäume tanzen bei Lukas Hemleb einen langsamen Walzer, bis sie zum letzten Akt ein Stück weit abheben und gen Himmel schweben. Hebbels „Gyges“ ist die Geschichte der Archaik schlechthin — Hemlebs großes Thema. Der König der Erneuerer, der Fremdling Gyges als Bote einer fortschrittlichen Welt, Thoas und Karna als Sklave und Krieger einer untergehenden Urkultur, Königin Rhodope als Vertreterin eines Matriarchats, die Sklavinnen als Signum einer Handelsware, an der ein Mann seine Ehre verspielen und sie durch Minne gewinnen kann.
Hemleb liebt den Umbruch der Kultur, die Konflikte des Übergangs einer Traditionskultur in eine Fortschrittskultur. Die Alten sagen, die Welt sei so, weil es die Urväter so sagten. Die Neuen sagen, die Welt verändere sich durch uns. Altes Afrika gegen neues Afrika. Fundamentalistischer Islam gegen Ölscheich-Kapitalismus. Keltenglaube gegen Autobahnbau. Hebbel senkte diese Konflikte tief in eine Schuld- und-Sühne-Soße; Hemleb hob das Drama daraus nur halb heraus, überließ meist jungen Schauspielern das Feld der Tageskondition. Gyges, der Lächler (Rainer Sellien), ist kein Bote einer anderen Welt, sondern nur tugendhafter Sportsmann, der die Olympischen Spiele gewinnt. Rhodope (Judith Rosmair) ist eine Intrigen deklamierende Königin, keine Verteidigerin einer untergehenden Kultur. Ihr Selbstmord, an dem die Vermählung mit dem kolonialisierenden Gyges scheitert, geschieht grundlos. Ihr Konflikt, eine Kultur zu opfern, um einer neuen sich doch nicht andienen zu können, wird kaum deutlich. Die Schauspieler beleuchten den Hintergrund ihrer eigentlich symbolischen Figuren nicht. Sie sind keine wissenden, sondern sich erst selbst erprobende Akteure. Arnd Wesemann
Friedrich Hebbel: „Gyges und sein Ring.“ Regie: Lukas Hemleb, Schauspiel Bochum, wieder am 20.September.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen