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Die Einsamkeit in der Gemeinschaft

■ Heinz Galinski, seit 1949 amtierender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin und zuletzt auch Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist im Alter von 79 Jahren gestorben...

Die Einsamkeit in der Gemeinschaft Heinz Galinski, seit 1949 amtierender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin und zuletzt auch Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Eine kritische Würdigung seines Wirkens

VON MICHAL BODEMANN

Nein, wir waren keine Freunde, und es wäre unehrlich, so zu tun als ob. Er war diktatorisch, aufbrausend, politischen Gegnern gegenüber unversöhnlich, bis er sie entweder kleingekriegt oder vertrieben hatte. Überlebt hat er sie fast alle. Ein Mann mit unbezähmbarem Überlebensinstinkt, auch politisch; aus hartem Holz, ein Graduierter von Auschwitz — der Welt tiefster Erniedrigung, die wir nie wirklich verstehen werden, weshalb uns vielleicht manches an ihm unverständlich blieb.

Er hat der Sache selbst voll gedient. Hier hob er sich radikal ab von Werner Nachmann, seinem Vorgänger im Zentralrat der Juden in Deutschland, den er posthum mit eisigem Schweigen belegte — und wohl dachte, das Problem sei damit gelöst. In diesen Jahren seit 1945, in denen es reichlich Gelegenheit gegeben hätte, ist er unkorrumpierbar geblieben, hat sich von keiner Seite kaufen lassen — was für jüdische Sprecher in Deutschland nach Hitler fast unmöglich war, waren doch die Versuchungen gar zu groß. Galinski blieb eisern seinen Überzeugungen und den Juden der Gemeinde in Berlin, die er jahrzehntelang geführt hat, treu. So, wie er sie für sich definierte und wie er sie zum Teil mitgeschaffen hatte. Dies bedeutete freilich auch: als betont loyale „deutsche“ Juden.

Zusammen mit anderen in der jüdischen Führung in den ersten Jahren nach 1945 sah sich Galinski in Berlin mit einem zusammengewürfelten Haufen von Juden konfrontiert: deutschen Juden, die entweder unter permanenter Gefahr in Deutschland überlebt hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren; Juden aus dem Osten, displaced persons, lebende Ruinen zumeist, aus den Lagern, Pogromen entkommen. Juden, die hier gestrandet waren und trotz verschiedener Versuche zu emigrieren nicht mehr von Deutschland loskamen. Er war konfrontiert mit jüdischen Antifaschisten vor allem im Ostteil der Stadt, mit national gesinnten Konservativen vor allem im Westen, Zionisten und Antizionisten, Atheisten und Orthodoxen; Juden, die allzu schnell vergessen wollten, und solchen, die nicht mehr vergessen konnten. Inmitten dieser Heterogenität konnte das Judentum kein assimilierend-patriotisches, deutsches Judentum mehr sein.

Galinski betrachtete es als seine Aufgabe, zwischen diesen verschiedenen Orientierungen und Interessen zu vermitteln und den Konsens in einer neuen jüdischen Selbstdefinition in Deutschland zu finden. So schrieb er im Februar 1950, bezogen auf die Diskussion über den jüdischen Reformritus, wie er in der Vorkriegszeit in Berlin praktiziert wurde: „Der Traum der Emanzipation (...) hat sich als eine Illusion, als ein verführerisches Trugbild und als eine moralische Unwahrheit herausgestellt. Wir wollten Europäer sein und unser Judentum nur insoweit aufrechterhalten, als es mit diesem Europäertum vereinbar erschien. Europa hat uns aber grausam ausgestoßen. Darum sind wir heute nur Juden, und darum sind wir heute nicht mehr daran interessiert, unseren jüdischen Gottesdienst irgendwie der deutschen Umwelt schmackhaft zu machen. Nur nach den Traditionen unseres Volkes (...) wollen wir ihn gestalten.“

Der jüdische Konsens ging ihm über alles. Im Juni desselben Jahres forderte er auf der Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Frankfurt am Main, eine neue jüdische Dachorganisation in Deutschland — der kurz danach gegründete Zentralrat — müsse alle vier Besatzungszonen einbeziehen, „da die Juden ganz Deutschlands sich zusammenfinden müssen“. Einen Monat später beobachtete er aus der Perspektive Berlins, die Gemeinde sei „abgeschnitten sogar von den jüdischen Menschen der übrigen Zonen in Deutschland, und es fehle der Kontakt zu „unseren Brüdern und Schwestern aus dem Ausland“. Dies erklärt zum Teil auch seinen heftigen Dissens mit dem damaligen Berliner Rabbiner Nathan Peter Levinson, der im März 1953 infolge der antisemitischen Hetze in der DDR die Juden dort dazu aufrief, den Osten zu verlassen. Für Galinski resultierte dies in der Teilung der jüdischen Gemeinde in Ost und West — eine der ganz wenigen Berliner Institutionen, die bis dahin noch eine Einheit gebildet hatten.

An seiner Idee der jüdischen Einheit hielt er bis zum Ende fest. Die Berliner Gemeinde ist eine Einheitsgemeinde, die in prekärer Balance orthodoxe und liberale Elemente enthält. Diese innere Koexistenz ist zweifellos Galinskis große Leistung. Doch die bittere Ironie ist, daß gerade die zähe Festschreibung der Einheit die Zerwürfnisse gebracht hat. Vom Beginn seiner Karriere an war Galinski schnell dabei, die eine oder andere mißliebige Person oder Gruppe aus der Gemeinde zu verbannen. Sein damaliges Wort, eine bestimmte Gruppe habe sich „außerhalb unserer jüdischen Gemeinschaft gestellt“, hat er noch vier Jahrzehnte später etwa auf die Jüdische Gruppe Berlin so angewandt. Statt jüdische Menschen verschiedener Herkunft und politischer Überzeugung mit offenen Armen aufzunehmen und ihre Werte und Meinungen zu tolerieren, hat er sie ausgegrenzt. Infolgedessen sind die Polarisierungen in der Jüdischen Gemeinschaft Berlins heute gravierender als in den anderen Gemeinden Deutschlands.

Galinski suchte freilich nicht nur die Einheit zwischen Juden, sondern auch zwischen allen jüdischen und nichtjüdischen Verfolgten. Als gemeinsame Aufgabe sah er schon 1950 zweierlei: die „Beoabachtung des politischen Geschehens“ — also des wiederauflebenden Nazismus — und die Anerkennung und Entschädigung der Opfer. Noch 1955 beklagte er die Zersplitterung der Verfolgten in verschiedenen Verbänden, und es sei auch die „Ehrenpflicht der rassisch Verfolgten, die Interessen der Widerstandskämpfer als ihre ureigenste Angelegenheit zu betrachten“. In diesem Sinne stellte seine — zunächst zögerliche — Unterstützung für das von Lea Rosh und anderen vorgeschlagene Mahnmal für ausschließlich jüdische Opfer der nazistischen Verfolgung einen klaren Bruch mit seiner früheren Haltung dar.

Diese Berliner Gemeinde, wie die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland insgesamt, ist äußerst schwach. Galinski versuchte diese Schwäche durch staatsmännischen Habitus und öffentlichkeitswirksame Kontakte mit bekannten Politikern zu verdecken, so im Frühjahr 1992 mit einem „Staatsbesuch“ in Polen. Ähnlich wurden bereits im Sommer 1955 vom Vorstand der Gemeinde Empfänge für den amerikanischen und französischen Botschafter gegeben, „zur Festigung der Stellung der Jüdischen Gemeinde“.

Nichts darf jedoch darüber hinwegtäuschen, daß die innere Schwäche der heutigen Gemeinde die Stärke Galinskis war, beides bedingte sich gegenseitig. Sein Führungsstil war undenkbar ohne diese strukturelle Schwäche, und nur das Engagement anderer qualifizierter Führungskräfte, die über die Jahrzehnte hinweg ein Gegengewicht hätten darstellen können, hätte seine Stellung relativiert; zur Zeit könnte ihm gewiß niemand in der Gemeinde das Wasser reichen. An seine Gemeinde gewandt, beklagte er sich noch im April dieses Jahres bitter über mangelnde Anerkennung seiner Arbeit in der Gemeinde und mangelndes jüdisches Gemeinschaftsgefühl: „Ich muß gestehen, daß ich diese Zeilen mit dem Gefühl einer großen Bitterkeit schreibe. Ich bin vor einigen Tagen von einer Besuchsreise in den USA zurückgekehrt, wo ich unter den Juden eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit, einer Solidarität, eine Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses vorgefunden habe, die mich mit Blick auf unsere eigenen Verhältnisse mit Trauer erfüllte.“ Ich meine, diese Bitterkeit ist Ausdruck seiner Einsamkeit in einer Gemeinschaft, in der seine größeren Ziele kaum mehr verstanden wurden. Das Judentum bewegt sich nun wohl tatsächlich, wie er sagte, „ins jüdische Abseits“.

Mit Galinskis Tod sind auch die fetten Jahre der Berliner Gemeinde mit einiger Sicherheit vorbei. Nach den schweren Anfangsjahren kamen zwei gute Jahrzehnte, das Ergebnis zähen Kampfes mit Berliner Behörden und Senat. Es ist nur zu wahrscheinlich, daß diese Gemeinde nun für die nächsten Jahre in ein Loch des Schweigens fällt, mit sich selbst beschäftigt, ohne politische Visionen und ohne die politische Wachsamkeit, mit der auf Galinski immer Verlaß war, vor allem, wenn es um Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus in Deutschland ging. Trotz aller Gegensätze waren wir hier mit ihm einig, und dieses Erbe müssen wir bewahren. Gerade angesichts der Zuwanderung aus dem Osten sollten wir die Basis jüdischer, den Pluralismus respektierender Solidarität neu begründen.

Michal Bodemann ist Mitbegründer der Jüdischen Gruppe Berlin, Soziologieprofessor in Berlin und Toronto und Mitherausgeber der Zeitschrift „Babylon“.

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