: Paket vom Bürgermeister
■ Wie humanitäre Hilfe sich selbst ihre Zeit nimmt und dennoch Freude bereitet
Verschlungen sind die Wege, die viele der deutschen Hilflieferungen für die wintersnotleidenden Russen zu gehen hatten, bis sie bei ihren Empfängern ankamen. So verschlungen, daß viele der Pakete immer noch unterwegs sind, und jeden Tag an irgendeiner Stelle des russischen Territoriums verspätete Weihnacht gefeiert werden kann. Auch Klaus Wedemeier, Bürgermeister, hatte dazumal ein Herz für die Russen haben lassen und ein Paket nach Russland schicken lassen, das nun endlich seinen Empfänger fand. Gisbert Mrozek, die journalistische Bastion der Bremer in Moskau und des Königs reitender Bote für alle Fälle, war in den Besitz des Pakets gekommen und konnte es schließlich der Familie überreichen, für die es vorgesehen war. Seine Erfolgsmeldung schickte Mrozek an Wedemeier, der den kompletten Bericht postwendend an die bremischen Medien verteilen ließ.
Moskau, 21.7.1992 (rufa/gim) Die Freude über das Weihnachtspäckchen aus Bremen war riesig — obwohl es dank russischer Post erst im Sommer ankam. Strahlend packt Leonid Lanz aus. Nimmt als erstes mit vor Aufregung zitternden Händen die Mundharmonika, die er sich seit Jahren gewünscht hat. Und spielt ein Weihnachtslied. Die Kinder — Tochter Valja (12), Nadja (18 Monate), Sohn Igor (15) — halten sich an die Schokolade.
„Das ist doch nicht etwa alles für uns?“ Unglauben in der engen, dunklen Küche der Familie Lanz. Mutter mußte beim Melken bleiben, Leonid Lanz eilte aus den Sowchos-Viehställen herbei, um das Paket (Absender: Klaus Wedemeier, Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen) in Empfang zu nehmen.
Grjas (Schmutz) heißt das Dorf bei Moskau, in dem Familie Lanz seit 3 Jahren wohnt. Der Name ist offenbar Programm für die Sowchose, die Ställe und Wohnbaracken. Einmal, so berichtet Leonid Lanz, selbst deutscher Abstammung, habe er schon humanitäre Hilffe aus Deutschland bekommen, zugeteilt von der Sowchos-Direktion. Und er zeigt auf einen Haufen armseliger, dreckiger Lumpen am Küchenherd, angeblich eine Hilfslieferung aus Deutschland, offensichtlich aber sowjetischer Produktion. „Ich habe mich für Deutschland geschämt, als ich das bekam“, sagt Lanz.
Leonid Lanz versucht, sich selbst zu helfen. Gewächshaus mit Tomaten und Gurken vor der Baracke. Kartoffeln, Hühner, Schweine. Aber es reicht trotzdem nicht. Im sumpfigen Bachgrund hinterm Dorf hat die Sowchose ihm ein neues Grundstück zugeteilt, gerade groß genug für ein Häuschen mit Gemüsegarten. Nach drei Jahren mühsamer Entwässerungsarbeiten würde er jetzt mit dem Bau beginnen, hätte er Baumaterialien. 10.000 Rubel sparte Leonid Lanz von seinem mageren Lohn (gegenwärtig 1.500 Rubel oder 20,-DM im Monat) im Laufe seines Lebens zusammen. Vor drei Jahren hätte man dafür noch ein Auto kaufen oder ein Haus bauen können. Heute ist das Sparguthaben von der Inflation aufgefressen. Es würde beispielsweise knapp für 20 Kisten Bier reichen.
Das Päckchen aus Bremen löst die Probleme nicht. Aber — es macht Mut.
P.S.: Und hoffen läßt auch, daß die russische Post im Laufe eines halben Jahres das Hilfspaket schließlich zustellte. Nichts ging verloren. Dank eines Post-Kärtchens fanden sich Sendung und Adressat. „Sehr geehrte Gisbert Rufa“ hieß es auf dem Kärtchen, „für Sie ist ein Päckchen des Programms — Familien helfen Familien — angekommen“. Für den Kenner leicht entzifferbar als Adresse des Vermittlers: „Gisbert Mrozek, Rundfunknachrichtenagentur Rufa, Moskau, Leninskij Prospekt 148-117“, wie die Senatskanzlei sorgfältig beschriftet hatte. So beförderte die Russische Post, was der Kurierdienst des Deutschen Außenministeriums als zu schwer befunden und zurückgeschickt hatte.
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