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Urbanes Volkstheater

■ Die Off-Theatergruppe R.A.T. zeigt Edward Bonds »Trauer zu früh« im Schokoladen

Die Uraufführung von Edward Bonds Stück »Trauer zu früh« löste 1968 in England einen ungeheuren Skandal aus, Konservative sahen darin so etwas wie den Untergang des Abendlandes. Als Hans Neuenfels das Skandalstück vor fünf Jahren aufwendig und bilderverliebt an der Freien Volksbühne inszenierte, demonstrierten die Schocks von vorgestern nur noch, daß sie sich überlebt haben: Man sah lediglich ein etwas wirres, surrealistisch angehauchtes Spektakel.

Eine neue Berliner Inszenierung geht entschieden klüger und entspannter mit dem Stück um: Regisseur Dirk Steinmann macht daraus eine grelle Revue, die kraftvoll und gelungen zum Besten zählt, was die Berliner Off-Theaterszene derzeit zu bieten hat.

Die Inszenierung erspart sich den fatalen Fehler viele Off-Gruppen, nur hilflos das Staatstheater zu kopieren, sondern setzt auf die groben Mittel eines Theaters, das sich irgendwo zwischen Rockkonzert und Jahrmarkt bewegt: Direkt, unprätentiös und getragen vom offenbaren Vergnügen am Spiel, das sich unmittelbar auf die Zuschauer überträgt. Die wunderschön heruntergekommene »Halle 10« des »Schokoladens« bietet mit abbröckelndem Putz und Löchern in den Wänden den passenden Rahmen dieses urbanen Volkstheaters.

Die Inszenierung kommt mit denkbar wenig Aufwand aus und versteht es, auf diese materielle Armut mit einigem Charme und Witz, auch mit einer Portion Unverfrorenheit zu reagieren. Die Ausstattung scheint direkt vom Flohmarkt oder aus einer Geisterbahn zu stammen. Die Königin und die Braut des Prinzen sehen mit schillernden Reifröcken aus, wie man sich in Kinderphantasien Prinzessinnen vorgestellt hat. Schon die Kostüme stellen klar, daß man es hier nicht mit wirklichen Menschen, nicht mit psychologischem Realismus, sondern mit reichlich irrealen Gestalten, mit Theaterfiguren zu tun hat (Ausstattung: Stella Huwendiek und Antje Berger).

Das unbekümmerte Ausstellen der Theatralität, frei von den verquälten Versuchen, auf der Bühne Wirklichkeit zu kopieren, funkniert glänzend: Die Inszenierung setzt auf den Kolportage-Charakter des Textes. Die Machtkämpfe im englischen Königshaus werden höhnisch travestiert, bis nur noch ein überdrehter Comicstrip übrigbleibt.

Das Stück spart nicht an grellen Effekten, von den als siamesische Zwillinge aneinandergewachsenen Prinzen Arthur und George über kannibalistische Einlagen bis zum hechelnden Fetischisten, der selig den Schnaps aus dem Stöckelschuh der Prinzenbraut Florence Nightingale schlürft. Die Intrigen und glichen Machtkämpfe bieten das Bild einer leerlaufenden Maschinerie, grotesk, sinnlos und ziemlich blutig: »Das schlimmste an der Welt ist, daß sie von Politikern regiert wird.«

Dirk Steinmanns Inszenierung ist nicht besonders an den pathetischen Botschaften aus einer wohlfeilen Gesellschaftskritik interessiert; die geschwätzigen Passagen in Bonds Text, die Versuche, den bösen Lauf der Welt zu kommentieren, sind rigoros gestrichen: So gewinnt das Spiel Tempo, es kommt ohne Bedeutungsschwere aus und hat für die Metzeleien der Macht nur noch Hohn und ätzenden Sarkasmus übrig. Unter Steinmanns Regie verwandelt es sich vom politischen zum absurden Theater, näher bei Alfred Jarry als bei den Aufklärern. Man sollte das nicht für unpolitisch halten, es ist die angemessene Reaktion auf eine Lage, in der Politik nichts mehr mit Hoffnung zu tun hat und Utopien als erledigt gelten: Was bleibt, ist tatsächlich nichts als die mehr oder weniger blutigen Spiele und Mechanismen der Macht.

Offenbar sind es keine ausgebildeten Schauspieler, die in dieser kruden Anarcho-Revue auftreten. Die meisten haben Erfahrung im Off- Theater, aber es ist unübersehbar, daß weniger die Einzeltalente als das Ensemblespiel die Inszenierung trägt. Während der viermonatigen Probenzeit ist es der Gruppe gelungen, ein flüssiges, effektsicheres Spiel zu erarbeiten, das in keinem Augenblick fahrig, unkonzentriert oder verkrampft wirkt. Renate Kotelmann spielt eine steife Königin Victoria, Maren Hartmann eine naive, immer etwas überrascht wirkende Florence Nightingale, Mänix Wilhelm einen süffisanten, stets korrekten Gentleman-Intriganten.

Aus dem Ensemble ragt Max Schlüpfer heraus, ein faszinierender Schauspieler von scharfem, gefährlichem Charme. Er ist der einzige professionelle Schauspieler des Ensembles und ein Talent, dem es scheinbar mühelos gelingt, die lockere Spielebene der Inszenierung zu durchbrechen: Er spielt den siamesisch an seinen Bruder gefesselten Prinzen Arthur, intelligent und böse, verzweifelt und voller Ekel an der Welt. Gegen Ende des Stücks bricht sein Haß in einigen großen, wütenden Monologen aus ihm heraus, die ihn zu einem nahen Verwandten des klassischen Nihilisten Franz Moor machen: Zu klug, um glücklich zu sein, zu aggressiv, um zu resignieren.

Die knapp dreistündige Vorstellung zeigt die besten Möglichkeiten des Off-Theaters jenseits der hochsubventionierten Gemütlichkeit der Staatstheater. Frei von intellektuellen Verrenkungen und aufgesetzten Posen gelingt ein äußerst witziger, kraftvoll-grotesker Theaterabend, der hoffen läßt, daß die Gruppe die triste Berliner Theaterlandschaft mit weiteren Unternehmungen beleben wird. Peter Laudenbach

Weitere Vorstellungen: heute, Do-So um 20.30 Uhr, im Schokoladen (Halle 10), Ackerstraße 170

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