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600 Kilo heiße Luft

■ „Kamikaze Kids“, ARD, Di., 21.30 Uhr

Ist ja immer so ne Sache mit den fremden Sitten und Gebräuchen. Womit andere Völker ihren Hunger stillen oder sich die freie Zeit vertreiben, verletzt — bei aller kosmopolitischen Aufgeschlossenheit — bisweilen unser Zartgefühl doch aufs empfindlichste. Um so mehr, wenn sich da im vereinten Europa unsere spanischen Brüder und Schwestern an so einem Spektakel wie dem Stierkampf ergötzen. So gab es sie denn auch schon zuhauf, jene „kritischen“ Reportagen, die die harte Meßlatte der deutschen Tierschutzgesetze an das blutrünstige Treiben legten und voller Empörung Kopf und Schwanz der Toreros forderten. Berichte, die tagsdrauf zwar etwas mulmiger an der heimischen Fleischtheke vorbeischlendern machten, aber nichtsdestotrotz den Eindruck hinterließen, einem dieses grotesk ungleichzeitigen Phänome, an dem doch immerhin kluge Köpfe wie Picasso, Hemmingway oder Bataille einen Narren gefressen hatten, auch nicht zur Gänze erklärt zu haben.

Von daher ließ die Reportage von Hilka Sinning und Udo Vieth doch auf einiges hoffen, zumal es laut Titel weniger um die gemeuchelte Kreatur denn um die Beweggründe der „Täter“ gehen sollte. Doch was die beiden da ablieferten, war nicht mehr als ein buntes Tourismus-Video rund um die Corrida. Dazu ein paar launige Momentaufnahmen zweier rising stars am Stierkampfhimmel — das war's auch schon. Über Geschichte und Funktion dieses seltsamen Rituals keine Silbe.

Und auch der verheißene Einblick ins Seelenleben der spanischen Jugend blieb völlig aus. Der Nachwuchs-Matador lebte fernab aller sündigen Laster irgendwo in der andalusischen Pampa, und auch seine Kollegin brachte ihre Jugend scheinbar mit nichts anderem zu, als Vierbeinern kunstvoll nach dem Leben zu trachten.

Inwieweit die beiden nun repräsentativ für der Jung-Spanier Sinnen und Trachten sein sollten oder ob gar die (behauptete) Renaissance dieses Hokuspokus auf einem wie auch immer gearteten „gesellschaftlichen“ Nährboden sprießt, darüber erfuhr man kein Wort. Dafür aber allerlei anderes Wissenswertes. So zum Beispiel, daß ein ausgewachsenes Prachtexemplar (der Stier, nicht der Torero) „locker 600 Kilogramm Kampfgewicht auf die Waage bringt“ und so „teuer ist wie ein Mittelklassewagen“, es auch Zweijährige (immer noch Stiere) „schon faustdick hinter den Ohren haben“, der Jung-Matador (nicht mehr der Stier) bei Überlandfahrten im Auto prima schlafen kann, er zwei Stunden vor einem Auftritt in seinem Hotelzimmer keinesfalls gestört werden darf (es sei denn, von einem Kamerateam des WDR) etc. pp.

Wenn es denn irgendetwas „Lehrreiches“ an diesem Beitrag gab, so war es allenfalls die Versicherung, daß es völlig unnötig ist, sich als Tourist auf der iberischen Halbinsel angesichts eines kapitalen Stiers gleich das rote Freizeithemd vom Leib zu reißen, da die Viecher nicht auf Farbe, sondern auf Bewegung reagieren. Aber wann begegnet man in Spanien schon mal einem frei herumlaufenden Stier? Reinhard Lüke

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