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Realsozialistischer Realismus

■ Experimentelle Lyrik aus dem Rußland der 50er: Wegbereiter des Konzeptualismus

Die Moskauer Konzeptualisten sind nicht unbekannt. Gegenwärtig werden sie von Ilja Kabakow und Konstantin Swesdotschotow auf der documenta repräsentiert. Die Wegbereiter dieser Kunst kennt man im allgemeinen jedoch nicht: die Dichter und Künstler aus Lianosowo.

Lianosowo — dort fanden sich in der Baracke des Malers Oskar Rabin Ende der fünfziger Jahre junge Künstler zusammen, um ihre Bilder zu zeigen. Igor Cholin, Wsewolod Nekrassow und Genrich Sapgir gehörten zu jenen, die sich in diesem Vorort Moskaus um den Dichter Jewgenij Kropiwnizkij scharten und im Kreis von Freunden ihre Texte lasen. Hier entwickelte sich, jenseits des Trubels staatlich veranstalteter Kultur und gegen deren Herrschaftsanspruch, eines der „Nester“ inoffizieller sowjetischer Kultur. Vor vertrautem Publikum wurden erstmals Erfahrungen einer „ganz und gar unpoetischen Welt“ thematisiert: Krieg und Lager, die Trostlosigkeit und Ödnis des Alltags, die Armut in den Wohnsiedlungen, Kriminalität, Alkoholismus und Tod. „Wir erkannten plötzlich, daß um uns herum eine ganze Welt lebt und brodelt und die Stimme erhebt. All diese ,Weiber‘ und ,Kerle‘, Invaliden, Waisenkinder, dieses ganze grelle, lärmende, saufende, fluchende Rußland, es klang in unseren Ohren als ein Stimmengemisch.“ (Genrich Sapgir)

Die Dichtung aus Lianosowo vermochte es, die Stimmen einzufangen, sie erschließt uns die Sprache des alltäglichen Bewußtseins dieser Wirklichkeit. Im Spiel mit dem Naheliegenden fand sie die eigene Stimme im sinnentleerten kollektiven Sprachgewirr.

„Sie starb in der Baracke mit 47/ Kinder hatte sie nicht/ Arbeitete auf dem Männerklo.../ Wieso lebte sie, wieso?“ — die düstere Realität ist es, die Cholin in ihrer Zwanghaftigkeit mit einfachen Worten reproduziert. Genrich Sapgirs „Stimmen“ stilisieren die Abgründe mittels Gleichklang und Wiederkehr des Gesprochenen. Poetisches Prinzip Nekrassows dagegen ist die Beschränkung auf elementarste Formen der Sprache, die Konzentration auf den Augenblick des Sprechens und auf das Schweigen, das des nicht ausgesprochenen Wortes bedarf: „Morgens gibt es bei uns/ Tee mit Sonne/ Zur Nacht -/ Milch mit Mond/ Und in Moskau Elektrizität/ Mit Sprudelwasser.“

Die Dichtung aus Lianosowo vermochte es, sich der normierten Sprache des alltäglichen Bewußtseins zu erwehren, indem sie sprachkritisch die Sprache selbst thematisierte. In diesem Sinne ist sie experimentelle Poesie. Sie ist gleichermaßen absurd, weil ihr die Absurdität der Existenz des „gewöhnlichen“ Menschen zu fassen gelang. Sie ist konkret, weil sie immer auf die sie einschließende Lebenswirklichkeit bezogen blieb.

Die Gedichte finden sich in einem Band, der anläßlich der Ausstellung „Lianosowo-Moskau. Bilder und Gedichte“ im Museum Bochum erschienen ist. Die Herausgeber Günter Hirt und Sascha Wonders dokumentieren eindrucksvoll die Vielfalt des Ausdrucksvermögens der Gruppe in ihrer Sammlung von Gedichten, Postkarten und einer Tonkassette mit historischen Aufnahmen aus dem Archiv Igor Cholins. Ein Essay, der das Lianosowo dieser Jahre lebendig werden läßt, Erinnerungen Wsewolod Nekrassows, biographische und bibliographische Notizen ergänzen den Textband. Uta Grundmann

„Lianosowo-Moskau. Bilder und Gedichte.“ Noch bis morgen im Museum Bochum. Vom 3. bis 28.August in der Sparkasse Bremen.

„Lianosowo. Bilder und Gedichte aus Moskau.“ Herausgegeben und übersetzt von Günter Hirt und Sascha Wonders. Edition S-Press 1992, 218 Seiten, 40 DM.

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