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Flüchtlinge in Karlovac: „Feiglinge und Verräter“

Während neuntausend Menschen in der kroatischen Grenzstadt auf ihre Rettung warten, überlegen kroatische Politiker, ob sie die wehrpflichtigen Männer auch gegen ihren Willen wieder an die Front schicken  ■ Aus Zagreb Roland Hofwiler

Dreitausend Flüchtlinge hatte die kroatische Stadt Karlovac erwartet, neuntausend waren es bereits gestern. Die meisten von ihnen sind Moslems oder nichtserbische Bosnier, Frauen mit Kindern und alte Menschen. Von der bosnischen Grenzstadt Bosanski Novi, wohin sie vor ethnischen Säuberungsaktionen geflüchtet waren, strömte die ganze Nacht zum Freitag hindurch ein kilometerlanger Zug aus UNO-Fahrzeugen durch die Stadtmauern. Organisiert hatte den Hilfskonvoi neben UN-Friedenstruppen das kroatische Flüchtlingsbüro. Nur unter ihrem Schutz durften die von serbischen Einheiten kontrollierten Zonen durchquert werden.

Jetzt warten die Flüchtlinge an der kroatischen Grenze auf eine Weiterreise. Nicht immer allerdings war Karlovac Grenzstadt. Erst im letzten Herbst wurde sie dazu gemacht, als serbische Freischärler im Hinterland ihre „Autonome Republik Krajina“ ausriefen. Verärgert meldete gestern das kroatische Fernsehen den fast endlosen Menschenstrom. Die Flüchtlinge seien von serbischen Freischärlern in ihren „befreiten Gebieten“ zwischen Bosanski Novi und Prjidor unter UNO-Aufsicht „ausgesiedelt“ worden, damit das einst gemischtnationale Gebiet entlang der Sana „rein serbisch“ werde.

Kroatien ist über diese Eroberungspolitik nicht allein verbittert. Die Politiker wissen sich auch nur noch mit sehr zweifelhaften Methoden zu wehren. Zum einen wird die UNO beschuldigt, indirekt zugunsten Serbiens einzugreifen. Zum anderen wirft man den muslimischen Territorialverteidigungsverbänden in Bosnien vor, keinen entschiedenen Widerstand gegen die serbischen Verbände zu leisten. Deshalb die Devise in Kroatien, die täglich in den Medien propagiert wird: Alle muslimischen Männer ab an die Front, Frauen und Kinder ab ins reiche Westeuropa.

Noch warteten gestern in Karlovac Männer, Frauen und Kinder zusammen in einem Sportzentrum auf die drei Sonderzüge aus Deutschland. In den Amtsstuben des kroatischen Innenministeriums gab man derweil offen zu, sollte Deutschland nicht alle Gestrandeten die Einreise genehmigen, werde man sich nicht scheuen, wie in Split und Slavonski Brod, die Flüchtlinge „auszusortierten“. Für die Männer hieße das, sie würden ohne Ausnahme zurück an die Front geschickt. Dabei beruft man sich auf ein Abkommen mit der bosnischen Regierung, wonach in ganz Bosnien für Männer zwischen sechzehn und sechzig die Generalmobilmachung gelte. Jeder flüchtende Mann ist demnach Deserteur. Bezeichnend ist jedoch, daß bisher keine einzige Zeitung, kein Amtsblatt den Wortlaut des Gesetzes veröffentlichte.

Auch die dramatischen Bilder, wie Männer in Slavonski Brod und Split von kroatischen Polizisten mit Gewalt von ihren Frauen und Kindern getrennt wurden, flimmerten bisher über keinen der heimischen Bildschirme. Nur betuchte Kroaten konnten diese schauderhaften Szenen über Satellitenprogramme mitverfolgen. Aufnahmen, die anscheinend nicht in das Bild von einem „offenen Kroatien“ passen, das zwar „niemanden mehr aufnehmen kann, aber auch niemanden zurückweist“, wie Franjo Tudjman kürzlich erklärte. Dabei ist auch die kroatische Bevölkerung auf den Flüchtlingsstrom aus Bosnien nicht besonders gut zu sprechen. Es findet sich kaum eine Zeitung, in der nicht regelmäßig behauptet würde, die muslimanische Bevölkerung trage die Schuld, daß der serbische Aggressor in Bosnien nicht entscheidend bekämpft werde. Da spricht man von „Feiglingen“ und „Vaterlandsverrätern“, prahlt mit der eigenen Kampfmoral. Viele kroatische Spitzenpolitiker wie Sime Djodan oder Branko Glavas bringen es leicht über die Lippen: Würden alle muslimischen Verteidiger die gleiche Kampfmoral aufbringen wie die Kroaten Bosniens, hätte man die Serben längst geschlagen. Alle großen Parteien Kroatiens fordern für „Deserteure“ jahrelange Militärhaft. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus möglich, daß von Karlovac aus bald erneut Tausende Männer als schlechtbewaffnetes Kanonenfutter zurück an die Front geschickt werden.

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