Noch einmal davongekommen

■ 51 Flüchtlinge wurden mit Fernsehkameras und Schokoriegeln begrüßt

„Heute verkehrt Sonderzug D 17994 von Unna — Neumünster aus Gleis 8. Verspätung ca. 120 Minuten“ signalisiert der Bildschirm der Zugauskunft im Bremer Bahnhof. Hinter der Zugnummer 17994 verbirgt sich ein Sonderzug des Roten Kreuzes. Der fünfte von sechs Zügen, die bosnische Flüchtlinge von Karlovac nach Deutschland bringen. Die wartenden Bosnier und Bosnierinnen, die zum Bahnhof gekommen sind, um nach Verwandten und Bekannten zu suchen, vertreiben sich die Zeit im Bahnofsrestaurant oder stellen sich auf dem Bahnsteig in kleinen Grüppchen zusammen. „Wir wollen das sehen“, sagt Rosalia Sipos, „wir haben genug Verwandte und Bekannte da“. Daß Bremen 50 Flüchtlinge aufnehmen will, findet sie „besser als nichts“. „Danke schön“, murmelt eine Frau, die sie begleitet. Mustafa Ibrahimowicz wartet auf Enkelkind und Tochter, mit der er vor einer Woche zum letzten Mal telefoniert hat. „Wir haben uns alle freigenommen“, berichtet Ismet Hodzic von der Gemeinde jugoslawischer Moslems.

Einige wartende Männer packen ihre Videokameras aus und filmen mit den Fernsehteams um die Wette. Endlich, um 15.45, die Durchsage: „Achtung, auf Gleis neun erhält Einfahrt ...“ Zwei Kinder laufen zum Bahnsteigrand, gespannt blickt alles nach Osten. Wenig später hält der Zug mit quietschenden Bremsen. Ein Junge posiert mit senkrecht nach oben gerichtetem Daumen am Zugfenster für Fernsehkameras und Fotografen, eine Frau reicht den im Gang aufgereihten Kindern Schokoladenriegel hoch.

Und dann geht alles ganz schnell. Am hinteren Teil des Bahnsteigs steigen die 51 Männer, Frauen und Kinder aus und werden sofort von Helfern und Journalisten umringt. Verletzte sind nicht dabei, die haben den Zug schon früher verlassen. Die Rot-Kreuz-Helfer brauchen ihre Rollstühle nicht. Nur eine alte Frau muß gestützt werden.

Verwirrung und Fassungslosigkeit stehen den Menschen, die sich auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof sammeln, ins Gesicht geschrieben. Einige weinen. Rasch sind sie auf die bereitstehenden Rot-Kreuz-Wagen verteilt, die sie zur Arbeiterwohlfahrt in der Goosestraße bringen, wo die Flüchtlinge die bürokratischen Formalitäten über sich ergehen lassen müssen. Die AWO- Helfer sind darauf eingerichtet, heute abend Überstunden zu machen, um die Flüchtlinge an aufnahmewillige Familien in Bremen zu vermitteln. Doch anderslautende Auskünfte aus dem Sozialressort sorgen auf dem Bahnsteig für kurze Verwirrung. Ein Helfer zuckt die Achseln: „Das Chaos kommt von allein.“

Für die Wartenden, deren Verwandte nicht in Bremen ausgestiegen sind, bleiben jetzt nur noch die Anfragen an das Rote Kreuz und die Hoffnung auf den letzten Zug. dir