piwik no script img

Tausende von Straßenhändlern besetzen Rio de Janeiros Innenstadt

■ Chaos auf dem Zebrastreifen

Chaos auf dem Zebrastreifen

Rio de Janeiro (taz) — Kreischende Händler, faules Obst, verstopfte Bürgersteige und raffinierte Taschendiebe: Rio de Janeiro gleicht seit kurzem einer stickigen, überfüllten Markthalle. Rund 100.000 Straßenhändler besetzen Pflastersteine, Bushaltestellen, ja sogar Zebrastreifen, damit die Passanten über ihre Waren stolpern. Die einst elegante Innenstadt von Rio droht zu einem Basar improvisierter Stände und Bretterbuden zu verkommen. Ladenbesitzer, Stadtverwaltung und Straßenverkäufer haben sich gegenseitig den Krieg erklärt.

„Wenn wir kein Geld verdienen können, dürft ihr es auch nicht“, drohten rund 3.000 Straßenhändler im Stadtteil Madureira umliegenden Ladenbesitzern. Aus Rache an der von den Geschäftsleuten geforderten Überprüfung der Gewerbescheine schlugen sie Schaufenster und Türen ein. Die Besitzer wiederum vernagelten aus Protest gegen den „Vandalismus“ drei Tage lang die Türen und Fenster.

Der Krieg zwischen steuerfreiem und steuerzahlendem Gewerbe in Rio ist Ausdruck des angespannten sozialen Klimas in ganz Brasilien. Allein in der Industriemetropole Sao Paulo wurden seit dem Amtsantritt von Staatsoberhaupt Fernando Collor de Mello im März 1990 rund 453.000 Arbeiter entlassen. Insgesamt liegt die Arbeitslosenrate im Land mittlerweile bei 15,5 Prozent.

Straßenverkauf ist für viele der Entlassenen zunächst die einzige Überlebenschance. Mit dem Abfindungsgeld, das ihnen nach der Kündigung zusteht, legen sie sich ein Warendepot an und bestreiten die hohen Anfangskosten.

Die Produktpalette der camelots, wie die fliegenden Händler in Rio genannt werden, kennt keine Grenzen: Kämme, Kleider, Rasiermesser, Obst, getrocknetes Fleisch, Perücken, Schildkröten und Computer, Telephonapparate, Videos, ja sogar ganze Wohnzimmereinrichtungen stapeln sich in den engen Gassen der Innenstadt.

Im Sommer, von Dezember bis Februar, reiben die Marktschreier den Fußgängern eisgekühlte Ananasscheiben unter die Nase, im Winter heiße Schokolade. Ein ehemaliger Filialleiter der größten brasilianischen Privatbank „Bradesco“ drapiert am Wochenende kunstvoll seine selbstgefärbten T-Shirts vor seiner ehemaligen Arbeitsstätte im Stadtteil Tijuca: Auf der Straße verdient er mehr als die mickrigen 500 Mark Gehalt für mittlere Bankangestellte.

Gegenüber von ihm verkauft Marielena, Moderatorin des Privatradios „Globo“, indische Kleider, um sich ein Zubrot zu verdienen. Ihr Gehalt wird nach Belieben des Arbeitgebers erhöht, in der Regel alle vier Monate, weil seit dem Amtsantritt von Präsident Collor die automatische Angleichung der Löhne an die Inflation des Vormonats aufgehoben wurde. Die Preise steigen allerdings weiterhin pro Monat um rund zwanzig Prozent.

Im Milieu der Straßenhändler tummeln sich jedoch auch äußerst zwiespältige Figuren. Die spottbilligen Videorecorder und Walkmen der camelots sind zum Großteil Schmuggelware aus Brasiliens Nachbarstaat Paraguay. Importprodukte, wie elektronisches Kinderspielzeug und Faxgeräte, stammen nicht selten aus einem geplünderten LKW-Anhänger.

„Straßenverkauf ist ein sozialer Rückschritt. In dem rechtsfreien Raum entwickeln sich Zuhälterei, Drogenhandel, Sklavenarbeit und Schmuggel“, erklärt der zuständige Beamte der Stadtverwaltung von Rio, Jacques Zaidsznajder. Die Stadt verlöre nicht nur jede Menge an Steuereinnahmen. Ihre Gehwege würden ramponiert, Straßen verstopft und das Stadtzentrum in eine große Mülldeponie verwandelt.

Gegen den Wucher des Straßenverkaufs kommt die Stadtverwaltung nur schwer an. Bürgermeister Marcello Alencar ließ bereits mehrfach unter großem Polizeiaufgebot einzelne Straßen in der Fußgängerzone für camelots sperren, nachdem der Asphalt renoviert worden war. Zur Zeit sucht die Stadtverwaltung nach einem geeigneten Gelände in der Innenstadt, um einen festen Markt für die camelots einzurichten.

Eigentlich haben nach brasilianischem Recht nur Rentner, Künstler, Behinderte und entlassene Häftlinge Anspruch auf eine Lizenz für freies Gewerbe. Doch bei Kontrollen weigert sich die Polizei, die Gouverneur Brizola untersteht, den städtischen Beamten beizustehen. Letztere wiederum erliegen nicht selten den Bestechungsversuchen der Händler. Ihre Rechtfertigung, es sei immer noch besser, ohne Gewerbeschein zu verkaufen als eine Bank zu überfallen, stößt beim Volk auf volles Verständnis.

Die geschädigten Ladenbesitzer haben inzwischen die Flucht nach vorn ergriffen: Sie stellen camelots ein, um ihr Sortiment ebenfalls auf dem Bürgersteig zu vertreiben. Damit ist das Chaos perfekt. Astrid Prange

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen