Lebenslänglich für Inge Viett gefordert

Bundesanwaltschaft beantragt erstmals Höchststrafe für RAF-Aussteigerin aus der DDR/ Keine Anwendung der Kronzeugenregelung: Sie habe ein „taktisches Verhältnis zur Wahrheit“  ■ Aus Koblenz Gerd Rosenkranz

Inge Viett, Gründungsmitglied der Bewegung 2. Juni und frühere Aktivistin der RAF, soll das Gefängnis, wenn überhaupt, als Rentnerin wieder verlassen können. Nach 41 Verhandlungstagen beantragte die Anklage gestern für die 48jährige RAF- Aussteigerin die lebenslange Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes an einem französischen Polizisten im Sommer 1981 und Beihilfe zum dreifachen Mordversuch im Zusammenhang mit dem RAF-Anschlag auf Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig im Juni 1979. Vor dem Oberlandesgericht Koblenz wandten sich die Bundesanwälte Widera und Altvater gegen die Anwendung der Kronzeugenregelung zugunsten Inge Vietts, die bis zu ihrer Verhaftung im Juni 1990 fast zehn Jahre unter falschem Namen in der DDR gelebt hatte. Außerdem forderten die Ankläger das Gericht auf, die „besondere Schwere der Schuld“ der Angeklagten im Urteil festzuschreiben. Folgen die Richter diesem Ansinnen, gilt die Aussetzung der lebenslangen Haftstrafe nach 15 Jahren oder eine frühe Begnadigung durch den Bundespräsidenten als äußerst unwahrscheinlich.

Werner Widera, als Hardliner der alten Karlsruher Schule bekannt, ließ gleich zu Beginn des knapp dreistündigen Plädoyers keinen Zweifel, wohin die Reise gehen sollte: Der Angeklagten unterstellte er „ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit“, ein Vorwurf, der in genau dieser Formulierung zuerst dem RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock zuteil geworden war. In der Tat bekannte Viett, ihre früheren Genossen nicht belasten zu wollen. Widera wertete dieses Verhalten als „nachwirkende Solidarität“ mit der RAF.

Entscheidend für die beantragte Höchststrafe ist der von den Anklägern als „überlegt und sorgfältig gezielt“ charakterisierte Schuß Vietts auf einen Pariser Polizisten im Sommer 1981. Der Beamte und Vater von drei Kindern ist seither fast vollständig gelähmt und lebt ohne Aussicht auf Besserung noch heute unter großen Schmerzen in einer Spezialklinik. Der Polizist hatte Viett seinerzeit stellen wollen, weil sie ohne Helm mit einem Motorroller durch die Pariser City fuhr. Als Vietts Fluchtversuch zu scheitern drohte, schoß sie — nach ihrer Darstellung in Panik und aus Versehen — und traf den Verfolger im Hals. Zeugen schilderten dagegen, die Frau sei schulmäßig in Schußstellung gegangen und habe kaltblütig aus nächster Nähe geschossen.

Auch in die Vorbereitungen zum gescheiterten Attentat auf Alexander Haig sei Viett intensiver eingebunden gewesen, als sie während des Verfahren zugegeben habe, glauben die Ankläger. „Augenscheinlicher Sinn“ ihres Besuchs in der von dem Haig-Kommando genutzten konspirativen Wohnung in Brüssel kurz vor dem Anschlag im Juni 1979 sei es gewesen, eine für die Aktion benötigte, zerlegbare Maschinenpistole zu übergeben. Sie sei auch sehr wohl über das Ziel des bevorstehenden Anschlags unterrichtet gewesen und habe die Aktion insgesamt befürwortet. Dennoch wollen die Bundesanwälte Viett in Abweichung zur Anklageschrift im Fall Haig nur wegen „Beihilfe zum dreifachen Mord“ und nicht wegen Mittäterschaft verurteilt sehen.

In der für die Glaubwürdigkeit der Angeklagten zentralen Frage, zu welchem Zeitpunkt — im Winter oder Frühjahr 1981 oder 1982 — ein RAF-Quartett in der DDR eine intensive Waffen- und Sprengstoffausbildung erhielt, glauben die Bundesanwälte Vietts Version ebenfalls wiederlegen zu können. Schriftliche Unterlagen aus der Stasi-Hinterlassenschaft belegten eindeutig, daß der Lehrgang unter Beteiligung der Angeklagten erst 1982 stattfand, also nach dem folgenschweren Schuß auf den Polizisten. Inge Viett beteuert jedoch, sie habe sich nach der Verfolgungsjagd in Paris endgültig von der RAF getrennt. Mehr Glauben als der Aussteigerin wollten die Bundesanwälte in diesem Zusammenhang nicht nur den Stasi-Ausbildern schenken, sondern ausdrücklich auch den Nicht-Aussteigern und RAF-Gefangenen Helmut Pohl und Christian Klar, die ebenfalls (in der taz und als Zeugen vor Gericht) die Schießübung auf 1982 terminieren.