: Der kleine Greis von Tongogara
■ Flüchtlinge aus Mosambik warten in Simbabwe auf das Ende des Krieges
Dem Neuankömmling erscheint der Begriff „Lager“ bizarr. Tongogara, eine zum Flüchtlingszentrum gewandelte Kolonialplantage nahe der Ostgrenze Simbabwes, beherbergt 42.000 vertriebene Mosambikaner. Sie warten auf ein Ende dieses brutalsten aller Kriege, der ihr Heimatland heimsucht. 300.000 Flüchtlinge aus Mosambik leben in Simbabwe, einem Land, in dem die halbe Bevölkerung — 4,5 Millionen Menschen — bereits das siebte Jahr ungewöhnlicher Trockenheit erleidet.
Mark, stellvertretender Leiter der Aktivitäten von Save the Children im südlichen Afrika, betreut in Tongogara ein neues Projekt. Zerrissene Familien sollen zusammengeführt und Kleinkinder, die unbeschreibliche Brutalitäten miterlebt haben, psychisch unterstützt werden. „Manche dieser Kinder“, sagt er mit einer sehr englischen Stimme, „haben schreckliche Dinge gesehen. Man hat sie gezwungen, ihre Eltern zu töten. Sie haben gesehen, wie Menschen in ihre Häuser eingeschlossen und dann die Häuser in Brand gesteckt wurden.“ Wie sind solche Greuel denkbar? Ich blicke in die Augen eines kleinen Jungen. Etwa 10 Jahre mag er alt sein. Sein Gesichtsausdruck ist leer. Er sieht kaum anders aus als die alte Frau, die neben ihm sitzt.
„Das ist seine Großmutter“, erklärt Mark. „Seine Mutter ist noch irgendwo in Mosambik. Sie hofften, daß der Vater irgendwo hier sein könnte. Aber wir haben ihn noch nicht aufgestöbert.“ Mark ruft den Jungen hinüber. Er kommt, wir hocken zusammen auf dem Boden. Dieser Junge ist kein Kind. Er kann nicht spielen, er hat keine Energie. Wie so viele dieser Lagerinsassen hat er eine Aura stiller Würde. Er, der alles verlor, hat sich wenigstens selber behalten.
Die Geschichte, die er uns erzählt, ist in diesem unmenschlichen Kontext undramatisch, sogar typisch. Ja, er hat seit Tagen nichts gegessen. Ja, er hofft, seinen Vater zu finden, der von seinem Dorf davonrannte, weil er der Schwager der falschen Person war und eine Hinrichtung fürchtete. Der Junge ist weder ungeduldig noch interessiert. Er ist müde. Er war nie auf der Schule. Aber er ist klug; er hat überlebt. Wenn er nicht so klein wäre, seine Gesichtshaut ohne Falten — ich würde mich in der Gegenwart eines alten Mannes wähnen.
Mark verspricht, das Foto des Jungen in den an der Grenze verstreuten Flüchtlingslagern herumzuzeigen. Vielleicht wird es der Vater sehen und die Behörden aufsuchen. Vielleicht findet die Geschichte doch noch ein Ende.
Der Junge nickt zustimmend. Dann geht er zu seiner Großmutter zurück. Ich und Mark stehen auf, wir müssen zu einer Sitzung. Vor dem Auto drehe ich mich noch einmal um. Die Großmutter hält den Jungen in ihren Armen wie ein Baby. Sein Mund liegt an ihrer Brust.
Micheal Dorris, US-amerikanischer Ethnologe
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