EIN VERBRAUCHERSCHUTZGESETZ FÜR RUSSLAND

Neuer Pilz: Boletus Exitus

Moskau (taz) — Einen vorsichtigen Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit unternahm der Vizepräsident des Normenkontrollkomitees in Chabarowsk im fernen Osten Rußlands. Die eigens zusammengerufenen „Jungunternehmer“ warnte Stanislaw Awerin, sie mögen sich „moralisch darauf vorbereiten“, daß ab 1.Januar nächsten Jahres ein Verbraucherschutzgesetz in Kraft treten werde. Händler und Produzenten, die miese Qualität liefern, müssen künftig mit empfindlichen Geldstrafen rechnen.

Anlaß für diese derart rigorose Maßnahme waren Qualitätsmängel, die bei importierter chinesischer Schokolade und Alkohol aufgetreten sein sollen. Zwar war nicht die Rede von Todesopfern. Die Waren müssen es aber in sich gehabt haben, denn bisher wurde der russische Verbraucher nicht gerade verwöhnt. In Zeiten der Prohibition, kurz nach Gorbatschows Machtantritt, galt neben dem „Samogon“, dem Selbstgebrannten, auch Rasierwasser als adäquater Alkoholersatz.

Die Fürsorglichkeit eines Beamten dürfte die Russen schon erheblich verunsichern. Die Existenz einer derartigen Institution aber müssen sie schlichtweg für ein Wunder halten. Mit ungetrübtem Selbstbewußtsein verlautete aus der Behörde, „die chinesischen Produkte entsprechen nicht den russischen Qualitätsstandards“. Von diesen können die Konsumenten in den Bezirken Woronesch und Archangelsk Näheres berichten, soweit sie noch am Leben sind. 1.500 Kilometer Entfernung trennen beide Städte voneinander. Auf örtlichen Märkten und in Restaurants wurden Pilze gereicht, die bisher als ungefährlich galten. 150 Opfer liegen mittlerweile auf Intensivstationen, für 43 kam jede Hilfe zu spät. Der russische Rundfunk warnt seit einigen Tagen landesweit vor dem Genuß jeglicher Pilze. Radioaktivität vermutet man hinter der rätselhaften Veränderung. Zu den 2.500 bekannten Großpilzarten hat sich offenkundig ein Mutant gesellt. Ein Fall für die Mykologie (Pilzkunde), eine Randgruppe unter den Botanikern. Verbraucherschutzgesetze hin oder her: die Verantwortlichen für diese Katastrophe erreichen sie nicht. In der atomgläubigen russischen Gesellschaft sitzen sie unangefochten auf ihren Schemeln. Dann doch lieber einen chinesischen Reizwein... Klaus-Helge Donath