Die Würde des Menschen ...

■ Episoden aus der norddeutschen Rechtswirklichkeit (Teil 5): Wie eine Verwaltungsrichterin mit der Würde und Mittellosigkeit eines Arbeitslosen umspringt

(Teil 5): Wie eine Verwaltungsrichterin mit der Würde und Mittellosigkeit eines Arbeitslosen umspringt

Herr S. ist Sozialhilfeempfänger. Er ist 53 Jahre alt und findet schon wegen seines Alters seit Jahren keine Arbeit mehr. Seit einiger Zeit bekommt er Sozialhilfe. Vor zwei Monaten hatte er etwas Ärger mit seinem Sozialhilfe-Sachbearbeiter. Daraufhin meinte dieser plötzlich, Herr S. könne durchaus arbeiten, wenn er nur wolle. Herr S. bekam es vom Sozialamt sogar schriftlich: wenn er nicht täglich auf Stellenangebote in der Zeitung rasch reagiert, Bewerbungen schreibt und zwei- bis dreimal monatlich selbst inseriert, wird ihm zum Monatsende die gesamte Sozialhilfe gestrichen. Daß Herr S. sich seit Jahren intensiv bewirbt, wird als unglaubwürdig abgetan.

Einige Tage lebt Herr S. nach dem Entzug der Sozialhilfe noch von seinen restlichen Vorräten. Dann weiß er nicht mehr weiter und geht zum Anwalt. Der beantragt beim Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung. In diesem Eilverfahren, in dem Herr S. „für

1die Glaubhaftmachung“ auch noch eidesstattlich versicherte, daß er mittellos ist, wäre das Verwaltungsgericht in der Lage gewesen, umgehend eine Entscheidung zu treffen. Stattdessen forderte das Verwaltungsgericht Herrn S. auf, zum Arbeitsamt zu gehen. Später wollte das Verwaltungsgericht wissen, ob Herr S. beim Arbeitsamt oder vielleicht auch bei der HAB (Hamburger Arbeit, Beschäftigungs-GmbH) Erfolg gehabt habe. Während dieser Zeit war Herr S. mittellos. Er mußte sich von Freunden Geld leihen, um überhaupt etwas zum Essen kaufen zu können. Schließlich bekam Herr S. heftige Zahnschmerzen. Er mußte sich behandeln lassen. Hierfür war jedoch ein Krankenschein nötig. Erneut begab sich Herr S. ins Sozialamt, um wenigstens einen Krankenschein zu bekommen. Eine Mitarbeiterin dort erklärte ihm jedoch, diesen bekomme er nicht, er könne ja zum Zahnarzt gehen und vortäuschen, daß er versichert sei.

Am 4. August, exakt vier Wochen nach der Beantragung der einstweiligen Anordnung, rief die zuständige Richterin den Rechtsanwalt von Herrn S. an und teilte mit, daß eine Entscheidung noch weiter zurückgestellt werde. Herr S. habe ja nun einen Vorstellungstermin bei der HAB. Sie wisse, daß dort Stellen frei seien und Herr S. mit Sicherheit Arbeit bekommen werde. So werde das Ganze sich dann erledigen. Auf den Hinweis des Anwaltes, wie es denn mit Nachzahlungen für die Vergangenheit aussehe, erklärte die Richterin, daß es so etwas grundsätzlich nicht gebe. Auf den Hinweis des Rechtsanwaltes, daß Herr S. aber seit Anfang Juli mittellos sei, erklärte die Richterin, dieses hätte das Gericht nicht gewußt. Wenn das Gericht dieses gewußt hätte, hätte es vielleicht einen „Hängebeschluß“ für einen befristeten Zeitraum gegeben. Dies hätte Herr S. aber dann extra beantragen müssen. Allein die Beantragung einer einstweiligen Anordnung im Eilverfahren reiche da nicht. Daß ein Eilverfahren schon einmal sechs Wochen dauere, sei durchaus nicht ungewöhnlich, schließlich habe das Gericht eine Aufklärungspflicht. Mit seinem Hinweis, daß Herr S. auch ein Recht auf menschenwürdige Behandlung habe, dringt der Anwalt nicht durch. Zwar steht in Artikel 1 des Grundgesetzes, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, jedoch geht bei bundesdeutschen Verwaltungsgerichten Aufklärungspflicht vor Menschenwürde. Justus