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Das Ideal der großen Liebe

■ Dekadenz und Doppelmoral der zivilisierten Klasse: »Die Schule der Witwen« von Jean Cocteau in Treptow

Die junge, reiche Witwe will ihrem Gatten in den Tod folgen: Besessen vom Ideal der großen Liebe begibt sie sich in die Grabkammer ihres Mannes, um dort zu sterben. Nur ihre Amme begleitet sie scheinbar aufopferungsvoll. Mit List und Überredungskunst gelingt es dieser, ihrer Herrin den selbstmörderischen Plan auszureden.

Jean Cocteaus Farce »Die Schule der Witwen« beleuchtet kurz und skizzenhaft die Dekadenz und Doppelmoral der reichen oder sogenannten »zivilisierten« Klasse. Dem Theaterensemble S.H.I.T. unter der Regie von Beatrice Scharmann gelingt es dabei leider nur recht selten, die verschiedenen Aspekte des Stücks genau herauszuarbeiten und den vier sich antipodenhaft zueinander verhaltenden Figuren des Stücks Schärfe zu verleihen.

Da ist zuerst einmal die junge Witwe (Inka Groetschel), deren wahre Motive für den Todeswunsch sich erst so nach und nach herauskristallisieren. Es ist weniger die »große Liebe«, die sie diesen Schritt tun läßt, denn ihren sehr viel älteren Mann hat sie kaum gekannt und zum Ideal verklärt. Vielmehr will sie »die Zügellosigkeit und bösen Zungen der ganzen Stadt« durch ihr hehres Beispiel bestrafen — ihre eigene Klasse widert sie an. Im Leben fühlt sie sich zu schwach, die Rachegedanken konstruktiv umzuleiten.

Ihr zur Seite steht die Amme (Eva Schöngut), das Verbindungsglied zwischen reich und arm, zwischen überzivilisiert und natürlich-ungekünstelt. Sie kennt beide Extreme, und listig spielt sie ihr Spiel, um ihrer Herrin zu zeigen, was das Leben noch zu bieten hat. Die Szenen zwischen diesen beiden Hauptfiguren könnten aus einer Shakespeare-Komödie entliehen sein — sie sind vertrackt-komisch, bissig und doppelbödig. Bei Beatrice Scharmann verwischt diese Doppelbödigkeit, die Grenzen zwischen Spiel im Spiel und einfachem Spiel sind nicht klar genug gezogen. So erhält das Stück Pathos und Schwulst, und nur die Darstellerin der Amme vermag den Krampf an einigen Stellen zu lösen.

Den beiden von Cocteau differenziert ausgearbeiteten Figuren stehen zwei Karikaturen gegenüber, die das Bild von kranker Dekadenz und gesunder Natürlichkeit genauer fassen. Die Schwägerin der Witwe besucht das Familiengrab. Raffgierig, nur auf Äußerlichkeiten bedacht, steht sie für alles, was der Witwe zuwider ist. Sybille Gabele durchbricht mit ihrem Kurzauftritt für wenige Minuten das ansonsten etwas dröge Theatererlebnis: Mit zickigem Gehabe und munter sprühendem Parfumfläschchen fegt sie durch die heiligen Gemäuer — eine dankbare Rolle, die nicht verschenkt wird.

Für das Unverfälschte steht bei Cocteau ein junger Soldat (Martin Kammer), der auf dem Friedhof Wache schieben muß. Durch die List der Amme erlöst er die Witwe von ihrem Gelübde: der idealisierte Ehemann und die Rachegedanken haben dem neu erwachten Begehren den Vortritt zu geben.

Welchem Aspekt die Regisseurin den Vortritt gibt — der Farce, der Psychologie der Figuren und/oder einer vom Stück weiter entfernten eigenen Position — ist bei dieser Inszenierung nicht auszumachen. Sie bleibt unentschieden: ein bißchen Farce, ein bißchen Psychologie, es fehlt der übergeordnete Strang, an dem entlang sich die Geschichte vorwärtsbewegen kann. So wirkt das Stück farblos und muffig-verstaubt — kantig und bissig könnte es sein. Anja Poschen

Weitere Vorstellungen bis Ende August, donnerstags bis sonntags 20.30 Uhr im »Parkhaus« vom Kulturhaus Treptow, Puschkinallee 5.

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