Vom Bauboom im Osten keine Spur

Der Wohnungsbau ist in Ostdeutschland fast zum Erliegen gekommen/ Ost-Firmen arbeiten im Westen  ■ Von Matthias Holm

Berlin (taz) — Über Aufträge kann sich die deutsche Bauwirtschaft derzeit nicht beklagen, wenn man ihr Glauben schenkt. Ein „explosionsartiges Anspringen der ostdeutschen Baukonjunktur“ erwartet etwa die Walter Bau AG, zweitgrößte Baugruppe in der Bundesrepublik, im laufenden Jahr. Und Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer hat bereits einen „deutlichen Aufwärtstrend“ für die Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern ausgemacht. Der Bauboom im Osten, so hoffen viele Politiker und Ökonomen, werde als Zugpferd für den nach wie vor ausgebliebenen „Aufschwung Ost“ sorgen. Doch die realen Verhältnisse in diesem Industriezweig sehen ganz anders aus.

„Der Wohnungsbau im Osten ist tot“, haben Betriebsräte des ostdeutschenBauunternehmens Elbo längst erkannt. „Früher bauten wir hier Wohnungen, das ist mittlerweile völlig auf Eis gelegt. Wenn überhaupt, dann gibt es für uns nur noch Arbeit im Westen.“ Das größte Ost-Bauunternehmen, noch unter Obhut der Treuhand, ist heute überwiegend im Hamburger Raum tätig.

Elbo ist kein Einzelfall. Der ostdeutsche Wohnungsbau ist fast vollständig zum Erliegen gekommen. Laut dem Münchner Ifo-Institut wurden 1989 in der ehemaligen DDR noch 912.000 Wohnungen gebaut. Für dieses Jahr wird lediglich noch mit der Fertigstellung von 20.000 bis 30.000 Wohnungen gerechnet. Auch die Auftragseingänge in der Bauindustrie sprechen für sich: In den neuen Bundesländern betrug das Auftragsvolumen im vergangenen Jahr nicht einmal 20 Prozent des Westniveaus. Insgesamt gingen Bauaufträge in der Höhe von 18,5 Milliarden Mark ein, wovon nur drei Milliarden auf den Wohnungsbau fielen. Und selbst diese Zahl täuscht, denn dadurch wurde kaum neuer Wohnraum geschaffen — die drei Milliarden Markt wurden fast ausschließlich für die Instandsetzung schon vorhandener Bausubstanz verwendet. Selbst im Bonner Bundesbauministerium wird die Situation inzwischen nicht mehr so optimistisch eingeschätzt: Von einem Boom der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern könne nicht die Rede sein, so ein Mitarbeiter, vielmehr habe es im letzten Jahr ein „null-prozentiges Wachstum im Wohnungsneubau“ gegeben. Und Ost-Gewerkschafter der IG Bau-Steine-Erden rechneten vor, daß 1991 allein im westdeutschen Wohnungsbau mehr Arbeiten verrichtet wurden als in der gesamten ostdeutschen Bauwirtschaft zusammen. Auch in den anderen Sektoren der Bauwirtschaft sieht es nicht viel besser aus. Ein Wachstum von 20 Prozent erwarten zwar die Experten für dieses Jahr im Wirtschaftsbau. Doch auch diese Zahl verliert ihren Glanz, wenn man berücksichtigt, daß der Zuwachs an dem absoluten Tiefstand im letzten Jahr gemessen wird. Die IG Bau-Steine-Erden sieht in solchen Wachstumsraten ohnehin nur ein Vorzeige-Zahlenwerk, das keinen allgemeinen Trend aufzeige. Nicht mehr als sieben Milliarden Mark wurden im vergangenen Jahr im Wirtschaftsbau investiert, was ebenfalls nur etwa 20 Prozent des Westniveaus entspricht. Und da Investitionen im Wirtschaftsbau ein wichtiger Indikator für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung sind, verheißen die Fakten für die industrielle Zukunft in den neuen Bundesländern wenig Gutes. Der Beginn des vielzitierten „Aufschwung Ost“ läßt sich jedenfalls daraus nicht ablesen.

Den Werktätigen im angeblichen Boom-Sektor geht es ähnlich wie ihren Kollegen in anderen Industriebranchen. Die Zahl der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe ist in den letzten neun Monaten um zehn Prozent auf 300.000 gesunken. Selbst im Umkreis der neuen Hauptstadt Berlin, wo noch vergleichsweise viel gebaut wird, sind die Aussichten nicht sonderlich gut. Im Raum Berlin- Brandenburg sind zur Zeit rund 13.000 Bauarbeiter arbeitslos gemeldet, weitere 13.000 arbeiten kurz.

Westdeutsche Großunternehmen machen indes mit den verbleibenden Baufirmen in den neuen Bundesländern lukrative Geschäfte. Verlockend sind für sie vor allem die niedrigeren Löhne, die offiziell zwar bei etwa 60 Prozent des Westniveaus liegen, jedoch immer häufiger unterlaufen werden. Da rentiert es sich, ostdeutsche Baubetriebe von der Treuhand zu übernehmen und die Arbeiter auf Baustellen in den Westen zu schicken. In einigen Westberliner Unternehmen wurden in den vergangenen Monaten komplette Baubereiche wegrationalisiert, da Ostberliner Subunternehmer billiger sind. Neben renommierten Großunternehmen wie Hochtief oder Philip Holzmann lassen fast alle großen Baubetriebe die normalerweise lohnkostenintensiven Biege- und Verlegearbeiten von Betonstahl mittlerweile von ostdeutschen Arbeitnehmern verrichten.

Aber die ostdeutschen Bauarbeiter stehen längst noch nicht am unteren Ende der Lohnskala. In der gesamten Baubranche werden zunehmend osteuropäische Arbeitnehmer zu Dumping-Löhnen eingesetzt. Der baden-württembergische Handwerkspräsident Heinz Kohler gab die Zahl der osteuropäischen Saisonarbeiter, die auf deutschen Baustellen beschäftigt sind, mit 110.000 an. Doch tatsächlich dürfte sie weit höher sein — Gewerkschaftsvertreter rechnen mit mindestens 300.000 Bauarbeitern aus den osteuropäischen Nachbarländern. Der Einsatz ausländischer Billiglohnarbeiter wird von den Baukonzernen überaus positiv angesehen — als eine „internationale Zusammenarbeit“, die durch „Regierungsabkommen“ zwischen Bonn und den osteuropäischen Nachbarstaaten geregelt wird.

Der Autor arbeitet an der vom Frankfurter Verlag Neues Forum durchgeführten Untersuchung „Welche Zukunft für Ost-Deutschland?“.