DEBATTE
: Ein nüchterner Pazifismus ist immer noch angesagt!

■ Eine Alternative zum Vorstoß der Bellizisten, das Morden im ehemaligen Jugoslawien für eine Rechtfertigung militärischer Intervention zu nutzen

Joschka Fischer benennt — wie es schon Helmut Lippelt und Claudia Roth getan hatten — auch für mich die beiden unbestreitbaren Ausgangspunkte einer politisch-moralischen Orientierung in der neuen historischen Situation nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes: Nie mehr Faschismus und Völkermord, nie mehr Krieg von Deutschland aus.

Ein Pazifismus, der sich dem darin — im Extremfall — möglichen Dilemma nicht stellt, verliert seine moralische Kraft. Immerhin hat auch Gandhi für den Extremfall gewalttätige Abwehr nicht ausgeschlossen.

Wann kann eine „Weltpolizei“ eingreifen?

Daraus folgt aber noch nicht, daß „man sich, auch als Deutscher, nicht entziehen können wird“, wenn „in Europa irgendwann der eine oder andere Schurke an die Macht kommen“ sollte. Indem wir die eingeforderte Grundsatzdebatte aufnehmen, müssen wir hier schärfer moralisch unterscheiden, als Joschka dies tut: Erstens hängt die Frage einer legitimen „weltpolizeilichen“ Gewaltanwendung an der Existenz einer hinreichend gefestigten Rechtsordnung, die es allererst möglich macht, „polizeiliche“ von „militärischen“ Zielsetzungen zu unterscheiden. Denn dieser Unterschied liegt nicht primär in den Mitteln, die zum Einsatz kommen (obwohl es natürlich absurd wäre, mit U-Booten oder Flugzeugträgern gegen eine Bande von Straßenräubern vorgehen zu wollen), sondern zwischen dem Ziel einer Verhinderung/Unterbindung von Rechtsverletzungen isolierbarer Rechtsbrecher als „polizeiliches“ Ziel und dem „militärischen“ Ziel der Brechung eines politischen Willens eines (in der Regel staatlich) konstituierten Kollektivs.

Meines Wissens ist aber die einzig hinreichend gefestigte Rechtsordnung, auf die wir uns gegenwärtig beziehen können, um im internationalen Maßstab überhaupt „polizeilich“ vorgehen zu können, die Normierung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie sie in den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Kriegsverbrecher erreicht worden ist. Die bloße, ich unterstelle, berechtigte Charakterisierung eines Machthabers als „Schurke“ oder eines Regimes als „Friedensbrecher“ reicht gegenwärtig noch nicht aus, um „polizeiliche“ Aktionen zu rechtfertigen. Außerdem gehört noch etwas anderes dazu, um eine Gewaltanwendung als „bloß polizeilich“ rechtfertigen zu können: Wenn ein derart verbrecherisches Regime vom „Volkswillen“ getragen wird, kann gegen seine Taten nicht mehr bloß „polizeilich“ eingeschritten werden. Das geht dann nur noch „militärisch“, das heißt durch Krieg. Ich halte etwa die militärische Verteidigung der UdSSR, die den Nazis vor Stalingrad die entscheidende Niederlage beibrachte, und das Eingreifen der USA in den 2. Weltkrieg für völlig gerechtfertigt, sogar für moralisch geboten.

Eine ganz andere Frage ist es aber, einen solchen Extremfall, mit dessen konkreter Wiederholung nicht gerechnet werden kann, zur Grundlage der Definition unserer moralischen Kriterien zu machen! Das führt dann, wie im Fall der bundesdeutschen Notstandsgesetze, nur dazu, daß normale Verhältnisse immer unter dem Aspekt des Ausnahmezustandes gedacht werden.

Es fehlt an gewaltpräventivem Handeln

Diese Gefahr ist heute durchaus gegeben. Die führenden Mächte dieser Welt weisen doch kein Defizit an Gewaltbereitschaft auf, sondern vielmehr ein Defizit in der Bereitschaft zu gewaltpräventivem Handeln. Etwa das Embargo gegenüber dem Irak haben sie niemals ernsthaft betrieben, nicht einmal seine dann schließlich postulierte gewaltsame Durchsetzung, die sie allenfalls als Aufmarschphase für den ohnehin beschlossenen Krieg genutzt haben. Ein nüchterner Pazifismus, der die konkreten Analysen und Konzepte der Friedensforschung nicht vergessen hat, wenn er auch seine Grenzen in historischen Extremfällen kennt, hat hier immer noch ein reiches Betätigungsfeld, wie die klugen Deeskalationsvorschläge aus der bundesdeutschen Friedensbewegung auch zu Jugoslawien wieder bewiesen haben.

In dieser historischen Lage ist es nicht nur berechtigt, sondern auch geboten, daß sich die neue Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer historischen Erfahrungen speziell dafür engagiert, die vielfältigen Maßnahmen einer „menschenrechtsorientierten Außenpolitik“ zur Prävention von militärischer Gewaltanwendung und zur Deeskalation bereits begonnener militärischer Konflikte international wirklich zur Geltung und zum Einsatz zu bringen. Auch in Situationen, wo eine „polizeiliche“ Gewaltanwendung legitim (und durch Auffüllung der entsprechenden UN-Töpfe wirksam zu unterstützen) ist. Das ist keine „Drückebergerei“ wie die Stammtischstrategen sagen werden, sondern eine notwendige Korrektur der bellizistischen Verzerrung der herrschenden Außenpolitik, der bei jedem ernsthaften Problem nur das Entsenden von „schnellen Eingreiftruppen“ einfällt!

Viel kann getan werden, um den Konflikt auszutrocknen

Daß im konkreten Fall Ex-Jugoslawien keine militärische Intervention zu legitimieren ist, ist offenbar breiter Konsens: einfach weil es — ohne Friedenswillen der Bürgerkriegsparteien — nicht einmal ein sinnvoll definierbares militärisches Interventionsziel gäbe. Das notwendige „Austrocknen“ des Konfliktes, von dem alle sprechen, die sich ein Minimum an Einblick verschafft haben, könnte aber weit wirksamer betrieben werden: Wer stoppt die Tanklastwagen, die immer noch über Griechenland und Mazedonien ins Land kommen, wer macht die Waffenschmuggler dingfest, die offenbar auch und gerade in Deutschland am Morden verdienen, wer beschlagnahmt die Gelder im Ausland, die dazu dienen, das Embargo zu unterlaufen?

Und das ist gar nicht alles, was getan werden kann: Flüchtlinge sind aufzunehmen, nicht nur in homöopathischen Dosen, die schwachen innenpolitischen Kräfte, die sich in den ex-jugoslawischen Staaten dem Krieg und seiner Eskalation widersetzen, sind rückhaltlos zu unterstützen — und die Kriegsparteien, zwischen denen es zwar Unterschiede zwischen aktuellem Aggressor und aktuellen Verteidigern gibt, aber keine zwischen allein Schuldigen und völlig Unschuldigen, sind unter konsequenten politischen und ökonomischen Druck zu setzen — bzw., gerade durch die Bundesrepublik, sind ihnen allen, ohne Diskriminierung, interessante ökonomische Angebote für den Wiederaufbau und die „Einbeziehung in Europa“ zu machen, wenn und sobald sie ihre Kriegspolitik beenden.

Das alles wird leider nicht reichen, um das Morden rasch zu beenden. Aber einen besseren, wirksamen Ausweg gibt es gar nicht. Die Bellizisten, die heute versuchen, an der verzweifelten Wut über die Unmöglichkeit einer einfachen Beendigung des Krieges in Jugoslawien den Krieg ganz generell als Mittel der Politik zu relegitimieren, argumentieren einfach unredlich. Frieder O. Wolf

Der Autor ist Philosoph, Mitglied der Grünen und langjähriger Europa-Parlamentarier