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Hinter den Spiegeln

Parallel gelesen: Über Kultur, Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas  ■ Von Petra Kohse

Die Frage ist noch nicht geklärt: Wer feiert eigentlich wen im sogenannten Kolumbusjahr? Die Amerikaner die Europäer, die Europäer die Amerikaner oder jeder sich selbst? Es gibt jede Menge kultureller Veranstaltungen zum Thema, Kolumbus-Filme und natürlich eine Flut von Büchern. Im Mittelpunkt der Publikationen steht die Kultur und Kulturgeschichte Mittel- und Südamerikas, und das nicht zu Unrecht, schreiben wir doch das Jahr 500 nach Beginn der systematischen Ausrottung unzähliger Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent.

So meldete sich beispielsweise der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes mit seinem neuesten Buch „Der vergrabene Spiegel“ zu Wort, das auf deutsch in der Übersetzung von Ludwig Schubert bei Hoffmann und Campe erschienen ist. Der Titel ist programmatisch: Gemeint ist im engeren Sinn der Obsidian- Spiegel des aztekischen Kriegsgottes Tezcatlipoca (der Name bedeutet „Der rauchende Spiegel“). In diesem dunklen Vulkanglas meinten die aztekischen Seher die Zukunft zu erblicken. Tezcatlipoca habe ihnen das magische Gestein geschenkt, so glaubten sie, um damit die Vorherrschaft in Anahuac, dem heutigen Zentralmexiko, zu erlangen.

Fuentes' Spiegelmetapher bezieht sich im weiteren Sinne auch auf den Spiegel als Instrument der Selbstbespiegelung, als Möglichkeit, sich der eigenen Identität zu versichern. Als Mexiko durch Hernan Cortés und seine Männer im ersten Drittel des 16.Jahrhunderts erobert wurde, verloren nicht nur Millionen von Indios ihr Leben, sondern die Überlebenden und Nachkommenden auf Jahrhunderte auch ihre kulturelle Identität. Fuentes will diese wieder ausgraben — das Buch soll selbst zum Spiegel werden, der Kapitel für Kapitel das verlorene Bild aus der Vergangenheit holt, um schließlich der Gegenwart ihr Gesicht zu zeigen.

Die Kultur Lateinamerikas nennt Fuentes das einzige — wenn auch verdeckte — Kontinuum in der Geschichte der dort beheimateten Völker. Sich auf dieses zu besinnen sei die einzige Möglichkeit, die politische und ökonomische Krise des Halbkontinents zu meistern, denn „wir (haben) uns allzuoft Entwicklungsmodelle gesucht und dann aufgezwungen, die kaum einen Berührungspunkt mit unserer kulturellen Identität hatten“. Um diese zu definieren, lenkt Fuentes den Blick auf die Geschichte der Kultur, in der sich Lateinamerika „widerspiegelt und fortsetzt“: die spanische. Nicht von ungefähr spricht er zumeist von Spanisch-Amerika. Und gerade so, als ob er die kulturelle Vernetzung auch mit dem großen Nachbarn im Norden bekräftigen wollte, schrieb er sein Buch in Englisch.

Kulturgeschichte als Leistungsgeschichte

„Reflections on the New World“ ist das Original untertitelt, und eine Reflexion ist es auch eher als eine allumfassende „Geschichte der hispanischen Welt“, wie der deutsche Untertitel nahelegt. Denn wäre der „Vergrabene Spiegel“ als Geschichtsbuch konzipiert, müßte man ihm die Konzentration auf die Leistungsgeschichte vorwerfen, die bloße Akkumulation kultureller und politischer Höhepunkte.

Fuentes beschreibt Kultur anhand des Wirkens herausragender Zeitgenossen. Vom Keltiberer Numantia schlägt er einen Bogen über Miguel de Cervantes, Francisco Goya und Simón Bolivar bis hin zu Jorge Luis Borges, wobei er impliziert, ganze Epochen würden in deren politischen oder künstlerischen Leistungen kulminieren. Diese Methode erinnert an Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (1927-31). Beide Werke schreien geradezu nach ergänzenden Sozialgeschichten.

Mit der „Entdeckung“ Amerikas, schreibt Fuentes, haben nicht nur die Europäer ein neues Land mit neuen Kulturen entdeckt, sondern auch umgekehrt gilt, daß die amerikanische Bevölkerung durch die „Entdeckung“ der Europäer eine grundlegende Wandlung ihres Weltbildes erfuhr. Die gemeinsame Geschichte Europas und Amerikas sei geprägt von der jeweiligen Suche nach einem Ort, an dem sich utopische Gesellschaftssysteme verwirklichen lassen. Auch nachdem sich Lateinamerika im 19.Jahrhundert von den Europäern freigekämpft hatte, schreibt er, ohne dies negativ zu werten, war dort der Blick stärker auf die Alte Welt gerichtet als auf eine sich an den indianischen Wurzeln orientierende Zukunft: „Im 16.Jahrhundert war Spanisch-Amerika das Utopia Europas gewesen. Jetzt gaben wir das Kompliment zurück und machten Europa zum Utopia Spanisch-Amerikas.“

Welche kulturellen Traditionen aber blieben von europäischen Einflüssen unberührt, worin besteht das kulturelle Kontinuum, das er zu Anfang beschwört? Hier schweigt der Text. Fuentes' überaus spannende und anekdotenreiche Geschichtsschilderung vollzieht nach, wie sich die iberische Kultur in Lateinamerika festgesetzt hat — der Ausgangspunkt der indianischen Kulturen sowie auch die afrikanischen Einflüsse auf das Weltbild des modernen Mittel- und Südamerika bleiben weitgehend unerwähnt.

Im kulturoptimistischen Ausblick am Ende des Buches behauptet Fuentes indessen kühn, was er zuvor nicht ausreichend dargelegt hat, und geht dabei über gesellschaftliche Realitäten unbesorgt hinweg. Über das Verhältnis zum nördlichen Nachbarn schreibt er: „Die Vereinigten Staaten tragen ihre Kultur, ihren Einfluß durch Filme, Musik, Bücher, Ideen, Journalismus, Politik und Sprache in alle Länder Lateinamerikas. Das macht uns keine Sorge, weil wir das Gefühl haben, daß unsere Kultur stark genug ist und daß die Enchilada im Endeffekt neben dem Hamburger bestehen kann.“

Optimistisch und ungenau

Geradezu harmoniesüchtig ignoriert Fuentes, der einst als einer der „zornigen jungen Männer Mexikos“ galt, einen alltäglichen Anblick in Lateinamerika: von Plakaten, aus Zeitschriften und im Fernsehen lächeln ausschließlich nordamerikanisch bzw. europäisch aussehende Menschen ihr indianisches und schwarzes Publikum an.

Über präkolumbianische Kulturen selbst, die hinter dem auszugrabenden Spiegel ja zum Vorschein kommen würden, schreibt Fuentes wenig, und das Wenige ist ungenau: Die Pyramiden von Teotihuacán, nordöstlich von Mexiko-Stadt, wurden nicht von den Tolteken erbaut, wie er uns glauben machen will, sondern zwischen 650 und 900 lediglich von ihnen übernommen. Errichtet wurden die imposanten Bauwerke von einer weitgehend unbekannten Kultur zwischen dem 4. und 2.Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung. Die eigentliche Hauptstadt der Tolteken, wurde, unweit davon, Tollan (Tula). Wie kommt es, daß Fuentes, der die „große Reinheit einiger indianischer Kulturen“ doch beispielsweise in einem Gespräch mit Julio Ortega 1988 als mögliche „Reserve“ für Lateinamerika bezeichnete, jetzt kaum etwas über die noch lebenden Indios schreibt und sorgfältiger über die Keltiberer berichtet als über die Tolteken?

Gerade eine nach Zusammenhängen suchende Geschichtsschreibung darf nicht ungenau sein; das gleiche gilt für die Übersetzung. Ludwig Schubert nennt die spanischen Juden, die sich aus sozialen und politischen Notlagen heraus vor allem im 15.Jahrhundert taufen ließen, fast konsequent „Bekehrte“. Der verfänglich missionarische Unterton hätte sich leicht vermeiden lassen, wenn man sich des für einen Konfessionswechsel durchaus gebräuchlichen Verbes „konvertieren“ bedient hätte.

Alles in allem ist Fuentes' ehrgeiziger Versuch mißglückt: Der kulturelle Archäologe hat sich im Spiegelkabinett des kosmopolitischen Literaten verirrt und präsentiert als einzigen Fund: ein Lesebuch zur Kolonialgeschichte iberischer Kunst und Politik.

Technik an Kultur anpassen

Constantin von Barloewen hakt in seiner Untersuchung zur „Kulturgeschichte und Modernität Lateinamerikas“ indessen genau da nach, worüber Fuentes flott hinweggegangen ist: die fortgesetzte kulturelle und politische Orientierung an der Alten Welt auch nach Erlangung der faktischen Unabhängigkeit. Dadurch hat Lateinamerika die Chance verpaßt, eine „Vision der Zukunft“ aus „Elementen der eigenen Kulturen“ zu entwerfen, und adaptierte statt dessen „Versatzstücke der Zukunft, wie sie durch die europäische und nordamerikanische Kultur vorgegeben waren“. Die Revolutionen waren fehlgeschlagen, weil sie „nicht die Voraussetzungen für einen radikalen Strukturwandel“ nach der Kolonialzeit schufen. Damit erklärt der in Buenos Aires geborene Kulturwissenschaftler auch das wirtschaftliche Defizit mittel- und südamerikanischer Staaten: vom Westen und Norden wurden Technologien übernommen, die aufgrund der sozialen, kulturellen und religiösen Strukturen der Indios sowie der Mestizen nicht effizient genutzt werden konnten.

Als Beispiele führt er u.a. die animistischen Mythologien an, die einer auf Überflußertrag ausgerichteten Bodennutzung entgegenstehen. Auch der in breiten Schichten der lateinamerikanischen Gesellschaft dominierende Personalismus verhindert eine gewinnmaximierende Mentalität: soziales Prestige rangiert höher als ökonomische Potenz. Dazu kommt, daß die Arbeit selbst in den indianischen Kulturen als Mittel und nicht als Zweck angesehen wird. Barloewen plädiert in dieser Analyse dafür, die inländische Technologie Lateinamerikas unter Berücksichtung kultureller Spezifika zu stärken und so den Kreislauf der Abhängigkeit von den Industrienationen zu durchbrechen. Sicher präsentiert auch er kein detailliertes Patentrezept zur Krisenbewältigung, sehr wohl aber konstruktive Ansatzpunkte einer Diskussion darüber.

Kulturelle Conquista von innen

„Mexiko kann bei Gefahr seines Lebens nicht auf die aktuellen Eroberungen der Wissenschaft verzichten, aber es verfügt noch über ein altes Wissen, das demjenigen der Laboratorien und Gelehrten unendlich weit überlegen ist.“ Das schrieb der französische Theatertheoretiker Antonin Artaud bereits 1936, als er sich zu Forschungszwecken in Mexiko aufhielt. Zu Anfang des Jahrhunderts war die Metropole ein Luftkurort, heute ist der Himmel über Mexiko- Stadt schwarzgrau — bei Gefahr seines Lebens hat das Land auf die aktuellen Eroberungen der Wissenschaft nicht verzichtet.

Das spricht nicht gegen Artaud, forderte er doch gleichzeitig die Bewahrung des tradierten Wissens der Indios, das neben religiösen und politischen auch agrarische Bereiche umfaßt und das für den von Barloewen vorgeschlagenen Ausbau der inländischen Produktion noch heute nutzbar gemacht werden könnte. Aber: „Sie reißen die wenigen wissenschaftlichen Forschungszentren nationalen Charakters nieder, damit unsere Länder weiterhin dazu verurteilt bleiben, die ausländische, die von den Gebietern kontrollierte Technologie zu konsumieren.“

Sie, das sind in den Worten des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano die vom westlichen und nördlichen Kapitalismus abhängigen Staatsapparate Lateinamerikas. In der Essaysammlung „Von der Notwendigkeit, Augen am Hinterkopf zu haben“, die jetzt in der Übersetzung von Armin Steuer im Peter Hammer Verlag erschienen ist, setzt der Autor der „Offenen Adern Lateinamerikas“ und der Trilogie „Erinnerung an das Feuer“ damit noch einen Schritt vor Barloewen an, um die fast schon institutionalisierte Krisensituation in Mittel- und Südamerika zu erklären.

Galeanos zwischen 1979 und 1992 entstandene Essays sind wütende und entschlossene Streitschriften weniger gegen die industriellen Conquistadoren der Gegenwart als eben gegen die lateinamerikanischen Regierungen, die westliche Strukturen „nachäffen“ und ihre Völker zur kulturellen und geschichtlichen „Selbstverleugnung“ zwingen: „In ganz Amerika, von Norden bis Süden, erkennt die herrschende Kultur die Indianer als Studienobjekte an, aber nicht als Subjekte der Geschichte: die Indios haben Folklore, aber keine Kultur; sie haben ihren Aberglauben, aber keine Religion; sie sprechen Dialekte, aber keine Sprachen; sie machen Kunsthandwerk, aber keine Kunst.“

Galeano klagt gegen die Menschenverachtung des kapitalistischen Systems und stellt, mittels zahlreicher statistisch untermauerter Fallbeispiele, den früher in zahlreichen Indiokulturen praktizierten Sozialismus der gemeinschaftlichen Arbeits- und Lebensweise ohne Privateigentum dagegen. Lateinamerika selbst setze die Conquista im Inneren fort, schreibt er sinngemäß, da es seine ältesten Bewohner unterdrücke und damit einen Teil seiner Geschichte verdränge. Maßnahmen zur „Rettung“ der Indios, wie sie sein peruanischer Schriftstellerkollege Mario Vargas Llosa vorschlug, der eine „Modernisierung“ der Indios empfahl, um sie vor „Hunger und Elend zu retten“, verurteilt Galeano: „Der gerettete Indio ist der reduzierte Indio. Reduziert, bis er verschwindet.“

In den Spiegel spucken

Eine nationale, identitätsstiftende Kultur ist für Galeano die Summe all dessen, was an kulturellen Elementen im Volk lebendig ist, vom dörflichen Karneval bis zum großstädtischen Graffiti — beides war in Uruguay bis vor wenigen Jahren übrigens verboten. Ein Text von 1987 läßt sich genau gegen Fuentes' „Vergrabenen Spiegel“ lesen: „Der Nationalismus der Rechten (...) glaubt wirklich, daß sich die nationale Kultur durch die Herkunft ihrer Bestandteile bestimmt.“ Nicht das spanische Erbe, sondern die lateinamerikanische Gegenwart kann eine Antwort auf die Frage nach der Identität geben. Neben Galeano, der sich zum Weg Castros und der Sandinisten bekennt und der 1990 schreibt, „daß der Sozialismus noch nicht gestorben ist, denn er war noch nicht“, nimmt sich Fuentes' These vom Bestand einer lateinamerikanischen Identität auf der Basis iberischer Traditionen, die sich auch gegen das US-Imperium durchzusetzen imstande ist, tatsächlich reaktionär aus.

„Doch schließlich haben wir uns im wieder ausgegrabenen Spiegel der Identität gesehen, ganz aber nur in Begleitung — wir, mit anderen“, so Fuentes am Ende seines Buches. Und Galeano: „Wir sind dazu erzogen worden, in den Spiegel zu spucken.“ Und auch wenn seine etwas penetrante Integrität gelegentlich langweilt („Nie habe ich Kuba mit dem Paradies verwechselt. Warum sollte ich es jetzt mit der Hölle verwechseln?“), sei dem uruguayischen Polemiker damit das letzte Wort erteilt.

Carlos Fuentes: „Der vergrabene Spiegel. Die Geschichte der hispanischen Welt“. Deutsch von Ludwig Schubert. Hoffman und Campe, 1992, 384 Seiten, geb., 48 DM

Constantin von Barloewen: „Kulturgeschichte und Modernität Lateinamerikas“. Mit einem erstmalig auf deutsch veröffentlichten Essay von Georges Bataille (übersetzt von Erwin Stegentritt) und einem Gespräch mit Octavio Paz. Matthes & Seitz, 1992, 231 Seiten, geb., 39,80 DM

Antonin Artaud: „Werke, Band 7: Mexiko“. Mit einem Essay von Luis Cardoza y Aragón (deutsch von Cornelia Langendorf). Herausgegeben von Bernd Mattheus. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann und Bernd Mattheus, Matthes & Seitz, 1992, 251 Seiten, geb., 49,80 DM

Eduardo Galeano: „Von der Notwendigkeit, Augen am Hinterkopf zu haben“. Aus dem Spanischen von Armin Steuer. Peter Hammer Verlag, 1992, 196 Seiten, 19,80 DM

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