piwik no script img

Der Berg der Holländerin

■ In L'Alpe d'Huez gewann Leontien van Moorsel die neunte und letzte Etappe der Tour de France der Frauen und ließ sich als Gesamtsiegerin feiern/ Jeannie Longo wurde zähneknirschende Zweite

Berlin (taz) — Die auf die Straße nach L'Alpe d'Huez gemalten Namen wirkten noch recht frisch: Chiappucci, Induráin, Bugno, LeMond, Theunisse. Hin und wieder tauchten jedoch auch Schriftzüge auf, die noch ein wenig heller leuchteten: Longo, Leontien, Monique. Letztere, Monique Knol aus den Niederlanden, hatte mit dem Ausgang der Tour Cycliste Feminin 1992 nichts zu tun, wohl aber Jeannie Longo und Leontien van Moorsel.

Winzige neun Sekunden betrug der Vorsprung der 23jährigen van Moorsel, Weltmeisterin des letzten Jahres, vor der zehn Jahre älteren Französin, die die Tour de France der Frauen 1987, 1988 und 1989 gewonnen hatte. Die Schlußetappe über 75 Kilometer von Fontanil-Cornillon nach L'Alpe d'Huez, auf den „Berg der Holländer“, wie er wegen der häufigen niederländischen Siege genannt wird, war Longos letzte Gelegenheit, van Moorsel noch zu überholen. Schon bei der ersten der 21 Kehren, die sich mit einer durchschnittlichen Steigung von 13 Prozent 13,8 Kilometer lang hinauf in den 1.860 Meter hoch gelegenen Ort schlängeln, trat die Französin an. Doch was sie auch versuchte, Leontien van Moorsel ließ sich nicht abschütteln. Während die nächstplazierten Fahrerinnen wie Helen van der Vijfen oder die Schweizerin Luzia Zberg weit zurückfielen, klebte van Moorsel so dicht an Longos Hinterrad, daß sie manchmal fast auffuhr.

Die Mathematiklehrerin und passionierte Klavierspielerin aus Grenoble fühlte sich vermutlich zunehmend an 1987 erinnert, als sie ihrerseits eine zehn Jahre ältere Favoritin in die Knie gezwungen hatte, die damals 38jährige Italienerin Maria Canins, Tourgewinnerin von 1985 und 1986, die bis dahin den Frauen-Radsport einsam dominiert hatte. Je dichter die Zuschauerreihen am Rande wurden, je näher das Ziel kam, desto zorniger wurde Jeannie Longo, zumal sich Leontien van Moorsel beharrlich weigerte, Führungsarbeit zu leisten. Mit wütenden Handbewegungen forderte die mit der Startnummer 1 ins Rennen gegangene Französin ihre auf den Molukken geborene Rivalin auf, endlich mal nach vorn zu gehen, drohte gar mit der Faust und blieb auf der mörderischen Steigung ab und zu fast stehen, um die Holländerin an die Spitze zu zwingen. Doch gleichmütig tat es ihr die rotbehelmte Frau im Gelben Trikot nach, wartete geduldig und trat erst wieder kräftig in die Pedale, wenn Jeannie Longo den nächsten Ausreißversuch unternahm.

Nicht einmal den Etappensieg gönnte van Moorsel der bei den anderen Fahrerinnen wegen ihrer Verbissenheit nicht gerade beliebten Französin. Nach erneuten Stehversuchen einen Kilometer vor dem Ziel, zog Longo den Spurt an, doch kurz vor der Zielinie ging die sprintstarke Weltmeisterin zum erstenmal an diesem Tag an die Spitze und holte sich nach dem Triumph auf der fünften Etappe im Pyrenäenort Luz Ardiden auch den Sieg von L'Alpe d'Huez. Endlich mal wieder eine Gelegenheit für den Pfarrer der Kirche dieses „südlichsten Ortes der Niederlande“, die Glocken zu läuten, wie das bei holländischen Erfolgen seit langem Brauch ist. Die Männer aus der Hochburg des Radfahrens hatten den radsportbegeisterten Glöckner in den letzten Jahren weitgehend im Stich gelassen, Leontien van Moorsel gewann den gefürchteten Berg nun für Holland zurück.

Während die Siegerin Ströme von Freudentränen über den größten Coup ihrer bisherigen Karriere vergoß, kochte Jeannie Longo vor Wut. Unwirsch schubste sie die Hände der Helfer weg, die sie nach den Strapazen des Aufstiegs im Ziel stützen wollten, und radelte erstmal von dannen. Die Neun-Sekunden-Niederlage von L'Alpe d'Huez war binnen kurzer Zeit die zweite herbe Enttäuschung, die sie zu verkraften hatte, nachdem ihr vor drei Wochen die Australierin Kathryn Watt die olympische Goldmedaille weggeschnappt hatte. Als eventuelles Trostpflaster bleibt der 33jährigen „Ritterin der Ehrenlegion“ die Weltmeisterschaft, bei der sie in knapp zwei Wochen ihren fünften Titel holen könnte — wenn es ihr gelingt, Leontien van Moorsel von ihrem Hinterrrad wegzuscheuchen. Matti

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen