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Choreographie der Worte

■ Die brasilianische Star-Performerin Denise Stoklos zeigt in Deutschland zwei neue Stücke

Erst zwei Sekunden ist das Licht im Zuschauerraum erloschen, und schon schüttelt sich das Publikum vor Lachen. Eine schlanke Frau hat die Bühne mit weiten, tiefen und seltsam verqueren Schritten betreten. Die Damenhandtasche vehement unter die Achseln geklemmt, betritt, bespringt, beschreitet Denise Stoklos die Bühnenbretter. Ihr Erkennungszeichen: die wasserstoffgebleichte und wild toupierte Wuschelmähne, unter der ein hellwaches Paar Augen schelmisch hervorblitzt. Wenige Requisiten — Tisch, Stuhl, Sofa, Bett, Kühlschrank, Klosett — markieren vage einen Wohnraum. Doch was sich hier während sechzig atemloser Minuten ereignet, ist bar jedweder Alltäglichkeit und Realistik, ist Theatralik pur: Die Stoklos verwehrt den Dingen und Gesten ihre Normalität, schürft mit unermüdlicher Entdeckerfreude in tieferen Bedeutungsschichten, stülpt unsere Sehgewohnheiten um, verzaubert, irritiert, erschüttert.

Nachdem die brasilianische Performerin im letzten Jahr beim Essener Festival „Theater der Welt“ zum ersten Mal in Deutschland gastierte, kehrt sie nun mit zwei neuen Stücken zurück. Im Rahmen des Tanz- und Theaterfestivals „Movimientos '92“, das Hamburg und Köln vom 14.August bis 5.September gemeinsam ausrichten, erlebte die Domstadt die europäische Erstaufführung von „Casa“ sowie die Uraufführung von „500 Years“, einem ungestümen Beitrag zum Kolumbus-Jahr. Kolumbus und die Folgen: bei Denise Stoklos ein atemberaubender, mitreißender Parforceritt durch die iberoamerikanische Historie mit bitteren rhetorischen Hieben auf das soziale Elend des zeitgenössischen Brasilien von 1992.

Ihre Stücke entstehen in einem jahrelangen Prozeß. Das Ziel ist die Balance zwischen Körperbewegung und Sprache. Sie sucht die Nähe und will den (Blick)Kontakt zu jedem einzelnen Zuschauer. Für diese Herausforderung können ihr die Räume nicht groß genug sein. Ab 1.000 Plätzen fühlt sie sich erst richtig wohl. Immer wieder verblüfft die polyglotte Sprachgewandtheit der Stoklos. Bislang spielte sie ihre Stücke in Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Französisch. Als Anfang des Jahres ihr Engagement in Deutschland sicher war, erarbeitete sie binnen weniger Wochen die deutsche Version von „Casa“: Entstanden sind schier endlose Sprachkaskaden, bei denen jeder Muttersprachler ins Stocken geriete. Die Stoklos meistert sie scheinbar ohne Mühe. Sie ist eine Perfektionistin, die die „Choreographie der Sprache“ meisterlich zu inszenieren versteht. Sentenzen werden zergliedert, reduziert und dann repliziert. „Ich zeichne Sprache“, nennt sie diesen Prozeß. Die entstehenden Lautgemälde beeindrucken durch ihre eingehauchte Plastizität, „Love/Liebe“ sind solche Partikel, aber auch „Mein Gott“ oder „enough“; einmal ausgesprochen, werden sie sogleich zergliedert, multipliziert, verselbständigen sich. Die „Perspektive der Worte“ ist dabei genau kalkuliert. So transformiert sie in „Casa“ das urdeutsche „gemütlich“ quer durch alle möglichen Bedeutungsnuancen.

Seit 1968 entstanden zehn Stücke, für die Denise Stoklos als Autorin, Schauspielerin und Regisseurin verantwortlich zeichnet. Ihre Theaterarbeit begleiten seither theoretische Reflexionen, die sie in Form von Essays dokumentiert. Das von ihr propagierte „Essential Theatre“ pocht auf die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks und fordert die direkte sprachliche und körperliche Kommunikation zwischen Schauspielerin und Zuschauern. Da sich die Intimität des einzelnen Theaterabends nicht reproduzieren lasse, gestattet Denise Stoklos keine Film- und Fotoaufnahmen. Die wenigen Fotos, die zu ihren Stücken existieren, stammen von Isla Jay, mit der die Stoklos seit Jahren zusammenarbeitet. Auf ihren vielen Reisen um die ganze Welt läßt sie sich fast hermetisch abschirmen: von Gilda Almeida, die sich auch um Organisation, Ton und Licht kümmert.

Nach einem kurzen Abstecher ins heimatliche Sao Paulo steht nun die Reise durch mehrere europäische Länder an; in Deutschland wird das Theaterereignis Denise Stoklos nach den frenetisch umjubelten Kölner Aufführungen noch in Hamburg (26./27.August), Bremen, Braunschweig und Berlin (15./16.September) zu sehen sein. Michael Meiger

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