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„Die Lehrer fressen das Zeug auf“

Werbematerial dient in US-amerikanischen Klassenzimmern als Schulbuch  ■ Aus San Francisco H.-H. Kotte

Müllverbrennung wird „Recycling“ genannt. Benzin ist eine Form von „Solarenergie“. Und Umweltverschmutzung heißt ganz einfach „Einfluß“. Nein, dies ist nicht die neueste, verbesserte Ausgabe von olle Orwells „Neusprech“-Wörterbuch. Dies sind Zitate aus Lehrmaterial, das in den öffentlichen Schulen der USA verwendet wird. Mit ständig schrumpfenden Budgets konfrontiert, greifen immer mehr LehrerInnen zu Broschüren, Büchern und Videos, die Konzerne wie IBM, Exxon, Mobil oder der Verband der Energieversorger (National Energy Foundation) gratis anbieten. Die Materialien sollen als Grundlage des Unterrichts, zumindest aber als Ergänzung des guten alten Schulbuchs dienen.

„Keep America Beautiful“, eine PR-Organisation der Industrie in Sachen Recycling, schreibt in ihrer Broschüre: „Eine Energieform wird im Plastikmaterial gespeichert und bei der Verbrennung als eine andere Energieform wieder freigesetzt.“ „Planet Patrol“, eine „Umweltfibel“ des Reinigungsmittelherstellers Procter & Gamble, erreichte im Jahre 1991 etwa 80.000 öffentliche Schulen, wie das linke Nachrichtenmagazin Mother Jones in seiner Augustausgabe vermeldete.

Bei der Distribution des „Lehrmaterials“ in die Klassenzimmer des Landes gehen den Konzernen die PR-Firmen wie der New Yorker „Modern Talking Picture Service“ zur Hand. Werbeslogan: „Wir bringen ihr gesponsertes Lehrmaterial in den Stundenplan.“ Selbst die Auslieferung in Länder der sogenannten Dritten Welt ist kein Problem. „Talking Picture“ bietet seinen Kunden auch an, Lehrmaterial von ausgebildeten Pädagogen für sie erstellen zu lassen, als Grundlage dienen Videos der Konzerne.

Terri Sarchione, Managerin der New Yorker PR-Firma, wurde von dem Polit-Magazin hereingelegt. Eine der JournalistInnen gab sich als Repräsentantin eines Atomenergie- Konzerns aus und erhielt Antworten wie folgende: „Die Sponsoren können sich in dem Material wiederfinden, wie auch immer sie wollen. Wir würden niemals etwas schreiben, mit dem der Sponsor unglücklich ist.“ Zum anhaltenden Erfolg des PR-Materials in den Schulen sagte Sarchione: „Die Lehrer fressen das Zeug geradezu auf.“

Doch es braucht vielleicht gar nicht die bunten Broschüren, um die Ansichten und Ziele der Industrie in den Schulen und Universitäten zu verbreiten. Es geht auch unauffälliger, wie der US-Journalismus-Professor Ben H. Bagdikian in seinem Buch „The Media Monopoly“ schreibt. Danach sind viele Schul- und Lehrbuchverlage der Vereinigten Staaten während der sechziger Jahre von großen Elektronik- und Rüstungskonzernen (IBM, ITT, Litton, RCA, Raytheon, General Electric, Westinghouse, General Telephone & Electric) aufgekauft worden. Zu dieser Zeit habe unter den Konzernen die Euphorie vorgeherrscht, daß in den Schulen bald nur noch Kollege Computer das Sagen haben werde. Die Kontrolle der Verlage sollte den Konzernen den Verkauf der zur neuen Hardware passenden Software an Schulen und Colleges sichern. Der Siegeszug der Computer blieb zwar weitgehend aus, doch die Konzerne hatten den Fuß in der Klassenzimmertür.

Laut Bagdikian sind „die Werte und Interessen der Wirtschaft — wie im politischen System — auch in der Wissenschaft inzwischen dominierend geworden“. In den Aufsichtsgremien der Universitäten und Colleges würden Führungskräfte aus der Wirtschaft die größte Einzelgruppe darstellen. In den öffentlichen Schulen nehme von der Industrie hergestelltes „Lehrmaterial“ immer mehr zu. Da Bücher und andere Medien nur etwa ein Prozent der knappen öffentlichen Schulbudgets ausmachten, sei es der Industrie leichtgefallen, die Lücken mit ihren eigennützigen Produktionen aufzufüllen. Gratismaterialien für die Schulen werden laut Bagdikian von 64 Prozent der 500 größten US-Industrieunternehmen sowie 90 Prozent der Versorgungsunternehmen (Strom, Wasser etc.) produziert. Nur das US- Verteidigungsministerium stelle mehr außerschulisches „Lehrmaterial“ her als diese Firmen.

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