: Erotik-Shop in Meuselwitz
Trieb- und Geschäftsleben zwischen den Stühlen ■ Von Gabriele Goettle
Meuselwitz, unauffällige Kleinstadt mit zehntausend Einwohnern, liegt mitten in einem Braunkohlerevier im nordöstlichsten Zipfel Thüringens, zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Gruben sind geschlossen, von den ehemaligen Industriebetrieben liegen die meisten in den letzten Zügen oder sind bereits „abgewickelt“. Es gibt noch etwas Werkzeugmaschinenbau, Eisengießerei, Gummiverarbeitung sowie einen Restbestand Textilfabrikation, die, wie zur Versinnbildlichung harter Zeiten, statt der traditionellen flauschigen Babydecken nun Automatten und andere technische Textilien erzeugt. Neben der landesüblich hohen Arbeitslosenrate und den dazuwuchernden Billigmärkten hat die Stadt auch noch ein großes Einkaufszentrum, Fernwärme, eine in Rathausstraße umbenannte Friedrich-Engels-Straße, einen christdemokratischen Bürgermeister, ein geschlossenes Lichtspielhaus, diverse Bildungsstätten, ein als Badesee beliebtes Tagebauloch, zahlreiche wohlgepflegte Kleingartenanlagen der ehemaligen Kumpel und Fabrikarbeiter, eine Disko im Klubhaus der Kleingärtner, und dann gibt es noch ein Gutshaus mit Park und barocker Orangerie, einst Altersruhesitz von Veit Ludwig von Seckendorf, einem 1682 verstorbenen und berühmt gewesenen Nationalökonom, Staatsmann und Kirchenhistoriker, Verfasser des „Commentarius historicus et apologeticus de Lutherismo“ und des Grundlagenwerkes „Der Fürstenstaat“.
310 Jahre später bietet die Republik ihren Bürgern allerhand, zum Beispiel „taufrischen Thaiimport mit dem sanft naturgeilen Verwöhnprogramm“, zwei Polenmädel, Faustfickliebhaberinnen, eine „junge Mutti“ aus Leipzig, die für sich und den vierjährigen Sohn liebevolle Aufnahme sucht und dafür „einen Körper voller Leidenschaft“ eintauscht. Dietmar, blond, blauäugig, muskulös, massiert in Mecklenburg- Vorpommern Damen, Homos, Lesben, Bisexuelle und Transvestiten „ohne GV bis zum Orgasmus“, ein junges Unternehmerpaar möchte „Massage- und Bondagespiele gern wahrnehmen“, Haus und Auto vorhanden in Sachsen-Anhalt für niveauvoll bis perverse Spiele, „Sauberkeit und Gesundheit werden erwartet und geboten“, ein Unternehmerpaar aus Wittenberg hingegen bietet „tabulosem Mädchen“ Taschengeld, Klistiere im Raum Sachsen, in Berlin winken einer Sklavin statt Kettenverlust „Spitzenverdienst und Wohnmöglichkeit“, wohingegen in der Stadt, die unlängst noch Karl-Marx-Stadt hieß, ein Ehemann dringend Maskierte sucht, die seine Frau die Treppe hinabstoßen, in den „(Party-)Keller“, wo sie dann „gefickt und angepißt“ werden soll, Diskretion wird gewahrt und erwartet. „Sexspiele, von denen wir bisher nur träumen konnten“, jubiliert ein Paar aus Chemnitz, und ein anderes berät, ob Mutti sich ein schweres Vorhängeschloß anbringen lassen soll am Genital, vom Fachmann, in West-Berlin. Vorruheständler dürsten nach NS-Spielen, in den Osten verzogene Unternehmergattinnen suchen Peiniger zur Züchtigung ihres „Ehesklaven, GV, sonstige Besamung oder Gespräche sind unerwünscht. Nachmittagsbehandlung im Freien möglich.“
Diese reichhaltige Angebotspalette finden interessierte Neubundesbürger in einem bebilderten Kompendium zur herrschenden Ökonomie, namens „(S)EX-DDR aktuell“, hergestellt und vertrieben von einem auf Sex-Anzeigenmagazine spezialisierten westdeutschen Verlag.
An der Bundesstraße, die durch Meuselwitz führt, wirbt eine Reklametafel mit kurvenreichem Frauenbild für den Erotik-Shop. Nach kurzer Suche in kleinstädtisch-bäuerlichen Straßen findet sich endlich ein Hinweis zur Seitengasse, wo in einem grauen Hofgebäude, das vermutlich mal Stall war, Getränkestützpunkt und Erotik-Shop residieren. Eine steile Holztreppe führt unters Dach in zwei kleine Räume, der Bodenbelag wellt sich, die Dielen knarren. In den Regalen stehen, mit den Bildseiten zum Kunden, Videokassetten und Heftchen, Genitalien, Hintern, Brüste. Wie vom Konditor gemacht für die Auslage. Gerade als ich die ordentlich am Ständer aufgehängte Reizwäsche betrachte, betritt eine verlegen lächelnde Hausfrau in mittlerem Alter den Raum und eilt hinter ihren Verkaufstisch. Er ist überladen mit Dildos, Kondomen, Scherzartikeln. Sie vollführt mit der Hand einen Kreis in der Luft und sagt in weichem Sächsisch: „Sehn Sie sich nur um bei uns, suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Nach leichtem Zögern ist sie bereit zu erzählen, wie es zur Geschäftsgründung kam:
„Wir existieren seit Herbst 1990, im Oktober haben wir eröffnet. Mein Mann ist da drauf gekommen, ich nicht (lacht). Das kam so: Wir sind beide arbeitslos geworden. Ich bin Friseuse, mein Mann ist Polizist, der war im Strafvollzug beschäftigt. Wir hatten da einen Bekannten, der hat dasselbe in Altenburg gemacht, mit dem hat mein Mann sich zusammengetan.
Zu Beate Uhse wollten wir ja nicht, in der DDR hat ja damals gleich ein Großhandel aufgemacht, bei dem haben wir für uns bestellen können zu guten Konditionen. Aber wir ham uns geirrt, denn leben können wir nicht davon. Es war eine Fehlkalkulation, leider. So was geht vielleicht in der Großstadt, mag sein, aber hier in Meuselwitz ist das nicht drin.
Am Anfang war das noch anders. Als wir aufgemacht haben, da standen sie Schlange unten. So was kannte man ja bei uns in der DDR nicht. Aber allmählich ist das Interesse und die Neugier zurückgegangen, der Verkauf auch, sogar der Video-Film-Verleih. Das einzige, was immer geht, das ist ein echter Verkaufsschlager, ist dieses Heft hier. (Sie deutet auf einen Stapel des eingangs zitierten Sex-Anzeigenblattes.)
Aber sonst... Sie müssen bedenken, hier ist ja alles arbeitslos momentan, keiner hat mehr was, kein Betrieb mehr, der hier ordentlich arbeitet, und in so einer Situation überlegt man sich dann natürlich, ob man für so was Geld ausgibt, das ist ja klar. Essen und Trinken muß sein, Kleidung, das Wohnen, gut, die Sexualität vielleicht auch noch, aber (lacht) dafür braucht man das alles hier ja eigentlich nicht, denn vorher (lächelt) sind wir ja eigentlich auch sehr gut ohne alles ausgekommen, oder?
Sehnse mal, so ein Video-Film, der kostet für 24 Stunden 2,50 oder 3,50 bei uns, das ist ja eine ganze Menge Geld, und hinterher hat man nichts in den Händen.
Na gut, sagen wir mal so, es gibt immer welche, die wiederkommen, ein paarmal die Woche, am Wochenende. Die Stammkundschaft, die sich daran gewöhnt hat, die uns braucht und der das Geld an sich egal ist. Die sind richtiggehend darauf angewiesen. Aber der große Boom, der ist vorbei, absolut. Und ob nun irgend was Neues kommt, das kann ich mir eigentlich nicht richtig vorstellen. Was könnte das sein? Es gibt ja nichts, was es nicht gibt auf dem Gebiet.
Am Anfang habe ich mich natürlich etwas geschämt, ich hab' Bedenken gehabt, daß mich die Nachbarn nicht mehr grüßen werden, wenn erst mal bekannt ist, was wir hier anbieten. Aber, was soll ich Ihnen sagen, eher das Gegenteil war der Fall. Man war ganz besonders freundlich zu mir, das war ganz prima, fand ich. Wie soll ich das erklären, es liegt wohl teilweise auch an unserer freizügigen Erziehung hier. Man ist ja nicht so verklemmt wie anderswo vielleicht. Die Kirche hatte bei uns ja nichts reinzureden in die Erziehung, in die ganzen körperlichen Dinge und so, wie bei Ihnen drüben, so hab' ich es gehört. Es ist komisch, aber ich hab' immer den Eindruck, daß man drüben im Westen irgendwie prüder ist von der Erziehung her. Es war zwar das alles schon immer da, aber ich glaub', in Wirklichkeit haben die Leute im Westen Angst davor oder so was.
Na ja... Und was übrigens bei uns noch sehr gut geht, das sind die ganzen Scherzartikel hier, sehnse mal, zum Beispiel diesen Artikel verkaufen wir ununterbrochen (sie nimmt eine nach VEB-Produktion aussehende rote Thermoskanne aus dem Regal, schraubt die Verschlußkappe auf und weicht in gespieltem Entsetzen vor dem herausschnellenden überlebensgroßen Gummipenis zurück). Na, die, die noch Arbeit haben, die nehmen's gerne mit, das können Sie sich denken. Man weiß ja nie, wie lange noch. Sie zeigen es den Kollegen, erschrecken die Frauen im Büro, so was halt, auch für die Freizeit, wenn man will. Aber ich sage das immer ausdrücklich dazu, damit es keine Verwechslungen gibt, das ist ein reiner Scherzartikel, den kann man anderweitig nicht verwenden, ansonsten besteht erhebliche Verletzungsgefahr. Nur zum Lachen. Und lachen müssen die Leute ja auch mal, das ist gesund. Die kostet 14 Mark, die Kanne. Gut, wir machen die Preise ja nicht, wir müssen sie selbst auch bezahlen.
Einigermaßen gut geh'n auch noch die Gummipuppen, komischerweise die dunklen, die geh'n immer besser als die weißen. Mich wundert das manchmal. Die sind ja nicht gerade billig, kosten so zwischen 40 und 300 Mark. Aber das sind natürlich hauptsächlich ältere Männer, alte Männer. Da hat man ja was gespart, wenn man älter ist. Die meisten Männer kenne ich natürlich von Kind auf. Die haben oft keine Frau mehr, sind einsam abends in ihren Betten. Da kommt es dann natürlich sehr auf den Preis an, was man später davon hat oder nicht... Jugendliche, die noch kein Mädchen kennengelernt haben, kommen auch schon mal und nehmen sich die billigste mit zum Probieren.
Frauen kommen ganz selten. Deshalb war ich vorhin auch ein bißchen überrascht, als ich gesehen habe, wie Sie raufgegangen sind. Und wenn welche kommen, dann mit ihren Männern oder mehrere auf einmal, nur so, zum Gucken. Sie kaufen vielleicht mal ein Wäschestück oder auch lustige Kondome, einen Scherzartikel für den Geburtstag, mehr nicht. Wäsche und viele andere Artikel geh'n Weihnachten immer am besten, da kaufen wir dann vorher Verschiedenes ein.
Hard-Core-Sachen gehen bei uns gar nicht, auch nichts mit Peitschen und Fesseln und so was, ganz selten, daß da mal eine Nachfrage kommt. Und wenn, dann ist das hier so einer, der 'ne Fabrik übernommen hat, einer von drüben, aus dem Westen. Wir machen so was nur auf Bestellung, wenn einer so was direkt verlangt. Im Sortiment führen wir's nicht.
Alles, was wir jetzt haben, also hier das und drüben die Puppen, Massagestäbe und so, das sind ganz normale Sachen. Bei uns gibt man sich mit dem zufrieden. Es kann natürlich sein, daß das andere alles hier auch noch herkommt, bis jetzt ist ja alles hergekommen. Aber heute jedenfalls ist das hier immer noch das Neue für uns.
Manchmal wollen manche dann aber doch was, was sie noch nicht kennen. Angefangen hat das mit ein paar Leuten, die nach Intimschmuck gefragt haben. Da hatten wir dann einiges bestellt (sie zeigt mir ein Päckchen, in dem Ringe und Kettchen sind, zu tragen in durchbohrten Brustwarzen, von Damen und Herrn). Sehn Sie, das machen nun bei uns die Ärzte nebenbei mit. Ist ja im Prinzip dasselbe wie bei den Ohren, und wenn's einer unbedingt haben will, dann ist es ja egal, wo man das Loch hinmacht, Hauptsache, es gibt keine Infektion, hab' ich nicht recht?
Sehnse mich an, ich hab' mich da auch erst reinarbeiten müssen, jetzt kenne ich mich ganz gut aus. Vielleicht würde das Geschäft ja besser gehn (lacht), wenn hier eine ganz Junge, Schnuckelige stehn würde,
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aber vielleicht auch nicht, wer weiß das? Wir waren mal in Holland, uns das angucken dort. Also da habe ich schon gestaunt. Dort sind die, wie soll ich sagen, die käuflichen Frauen, gleich im Laden mit drin, und wenn da so ein Kunde ankommt und schaut sich um, dann kommen sie von hinten, nehmen ihn am Arm und gehn weg. Es gibt auch Filmkabinen und natürlich ein riesengroßes Sortiment. Da habe ich Sachen gesehen, von denen wußte ich nicht mal, was oben und unten ist.
Sog ar Kinderpornos haben sie. Aber so was beispielsweise würde bei uns hier gar nicht gehen, das ist nicht gefragt. Dazu hat bei uns die Familie einfach ein viel zu gutes Verhältnis zu den Kindern, und die meisten kämen erst mal gar nicht auf so eine Idee. Wenn Sie das sehen, wie bei uns die Väter mit ihren Kindern nackt baden und am Strand spielen, da ist gar kein Hintergedanke dabei, nichts. Andererseits, komischerweise, nach Tieren, also nach Sachen mit Tieren, da haben einzelne Kunden schon mal gefragt. Aber Kinder? Nee! Da hat bei uns niemand was von. Und ehrlich gesagt, das ist doch abnormal, oder? Auch das mit den Tieren. Also ich möchte so was nicht führen, wer's unbedingt will, soll sich's von woanders her besorgen, ich jedenfalls will solchen Schmutz hier nicht haben.
Ich persönlich bin ja ganz froh, daß es die normalen Artikel jetzt bei uns alle gibt, vielleicht läßt dann auch der Trieb nach anderen Sachen etwas nach. Und dann haben die Leute ja auch viel zuwenig Geld, denn das Perverse ist ja viel teurer, da vergeht manch einem die Lust.
falls haben wir hier keinen leichten Stand. Der Umsatz ist enorm zurückgegangen und, glauben Sie mir, wir hätten hier schon zugemacht, wenn wir nicht noch den Getränkestützpunkt dazugenommen hätten. Der hat jetzt den einen Vorteil zusätzlich, da kommen abends die Männer, holen 'nen Kasten Bier, 'nen Kasten Limo, und dabei kommen sie eben noch schnell auf einen Sprung hier rauf, schau'n sich um. Irgend was geht dann fast immer mit, ein Film, den gucken sie sich an und vergessen vielleicht ihre Sorgen für eine Weile, und die kommen dann auch immer wieder, denn trinken wollen sie ja auf jeden Fall. So haben wir uns das gedacht.
eme gibt's eigentlich nie, ich bin oft alleine hier, am meisten muß ich darauf aufpassen, daß die Jungen nicht unter achtzehn sind. Da sind schon Fünfzehn-, Sechzehnjährige dagewesen und wollten rein, oder manch einer versucht sich in einer Gruppe von Großen mit reinzuschleichen. Die haben zu Hause vielleicht mal auf Vaters Videorecorder einen seiner Filme gesehen oder so was, und jetzt ist in ihnen das Interesse erwacht, und sie wollen mehr sehen. Das wird dann oft schwierig. Ich lasse mir die Ausweise zeigen. Ohne Ausweis kommt mir hier kein Jugendlicher rein, man will ja nicht die Kinder verderben, die verstehen das alles ja noch gar nicht, und außerdem ist da das Gesetz ganz streng, es braucht nur einer herumzuprahlen, daß ich ihn reingelassen habe, schon können wir den Laden zumachen.
Aber meistens sind sie ja ganz lieb, und da müssen sie eben warten, bis sie achtzehn sind. Was ich mir wünschen würde, ist, daß unsere Leute wieder ordentliche Arbeit haben, damit sie sich was leisten können, genau wie Sie drüben im Westen. Was wir jetzt hier alles mitmachen müssen, das haben wir uns so nicht vorgestellt.“
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