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„Die vergehen vor Heimweh“

■ Ausländer stehen mit Problemen oft alleine / AWO fordert mehr Betreuung

Alkoholprobleme, Tablettenmißbrauch, psychosomatische Krankheiten, mitunter Krebsgeschwüre, die durch latentes Heimweh wachsen: Ausländerleben in Bremen. Welche Probleme Migranten in der Hansestadt haben, darüber informierten sich gestern die Senatorin für Ausländerintergration, Helga Trüpel (Grüne), und die Ausländerbeauftragte Dagmar Lill in der neuen Migrations-Beratungsstelle der AWO.

Migranten aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, der GUS und Polen haben hier seit Anfang des Jahres eine zentrale Anlaufstelle. Etwa 10.000 Ausländer und ebenso viele Aussiedler suchen jährlich Rat in Lebensfragen, bei persönlichen Problemen, Krisen. „Der Bedarf ist da“, sagt AWO-Abteilungsleiterin Hannelore Bitter-Wirtz, aber die Beraterinnen und Berater sind dem Andrang kaum gewachsen.

So gibt es für die insgesamt 25.000 Türkinnen und Türken, die derzeit in der Hansestadt leben, keinen einzigen Psychologen mit türkischer Muttersprache. „Es ist eine alte Erfahrung, daß die Leute über ihre privaten Probleme am liebsten in ihrer Muttersprache reden“, erzählt Cevahir Cansever. Sie betreut bei der AWO türkische Frauen. Keine ganz leichte Aufgabe: „Wir haben speziell Gesprächsgruppen als Nähkurse getarnt, damit die Frauen von ihren Männern wegkommen.“

Ihr Kollege Derya Mutlu betreut ausschließlich türkische Jugendliche: Mädchen, denen die Väter den Paß weggenommen haben, um zu verhindern, daß sie sich selbständig machen, Mädchen mit Schleier, die unter der Islamisierung leiden, Jungen, die Probleme mit der Schule haben oder Krach im Elternhaus. „Manchmal dienen religiöse Motive aber auch nur als Vorwand, weil die Jugendlichen wissen, daß die Behörde dann automatisch zwei Schritte zurückgeht.“

Besonders schwierig ist derzeit die Situation der sogenannten ersten Generationen von Migranten aus Jugoslawien, die in den 60er Jahren als Gastarbeiter in die BRD gekommen sind. „Die würden jetzt am liebsten zurückkehren, können das aber natürlich in dieser Bürgerkriegssituation nicht“, erzählt die zuständige AWO-Betreuerin Svenila Wagner. Die Männer haben mit 25 Arbeitsjahren gerade eine Minirente „zusammengeklebt“, und weil sie überwiegend schwere, körperliche Arbeiten ausgeführt haben, sind sie gesundheitlich angeschlagen. „Die vergehen vor Heimweh.“ Die Frauen haben wegen der Wechseljahre zusätzliche Probleme, für die in ganz Bremen nur eine Psychologin zur Verfügung steht, die des Serbo- kroatischen mächtig ist.

Für die Flüchtlinge, die mit dem Bürgerkrieg in die Bundesrepublik gekommen sind, wird die Aussicht auf Rückkehr immer hoffnungsloser, und auch in den gastgebenden Familien spitzt sich die Situation zu. „Viele Familien, bei denen die Flüchtlinge Aufnahme gefunden haben, kommen an ihre Grenzen“, erzählt Wagner. Da ist seit Wochen das Kinderzimmer von Familien belegt, die eigenen Kinder können nicht mehr spielen, der Winter steht vor der Tür, der Wohnraum ist eng.

Fast aussichtslos ist die Situation nach Angaben der AWO-Mitarbeiter in den sogenannten Erstunterbringungen für Asylbewerber. Im Schiff im Allerhafen wohnen derzeit 190 Asylbewerber, achtzig Prozent davon schon mehrere Monate, berichtete AWO-Geschäftsführer Hans Taake. Seit Monaten wohnen 120 alleinstehende Asylbewerber in der Turnhalle am Barkhof. „Wir brauchen unbedingt eine psycho- soziale Betreuung durch Psychiater“, erklärte Hannelore Bitter- Wirtz für die AWO. Und Geschäsftsführer Taake ergänzte: „Dort, wo betreut wird, gibt es zwischen Ausländern und Nachbarn keine Probleme“.

Senatorin Trüpel konnte dafür keine Zusagen machen. „Es wird unverantwortlich wenig in diesem Bereich investiert“, erklärte sie. Die Finanzierung der Migrationsberatungsstelle teilen sich Bund (60 %) und Land Bremen. 500.000 Mark bekommt die AWO derzeit für die Ausländerbetreuung, etwa 750.000 Mark für die Aussiedler. mad

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