: Angst und Liebe
Wiederentdeckt als Baustein der Moderne: Der Maler und Grafiker Max Klinger ■ Von Christoph Danelzik
Ich lebe in mir und wandele durch Reflexe meiner Augen: Gaslicht — Spiegel — Menschen.“ Max Klinger, der diesen Satz 1883 in sein Tagebuch schrieb, sog seine Umgebung durch die Augen ein. Seine Psyche sah er als die eigentliche Wirklichkeit, denn sie ließ sich durch die Phantasie unbegrenzt ausdehnen. Außen- und Innenwelt reizten ihn gleichermaßen, und er sah sie als Gegensätze. Die Malerei war nach seiner Ansicht das Mittel, die „äußere Welt“ festzuhalten. Phantasie ließe sich nur in der Zeichnung und Radierung ausdrücken. In diesem Sinn arbeitete Klinger mit beiden Techniken und außerdem als Bildhauer. Für eine Zeit, in der in Gesamtkunstwerken die Gattungsgrenzen gesprengt wurden, erstaunt die Entwicklung solcher Vielseitigkeit nicht. Die Erinnerung der Nachwelt an Klingers OEuvre krankt gleichwohl an einem Tunnelblick: neben seinen Grafikzyklen wurden nur wenige Gemälde und Skulpturen gleichermaßen geschätzt. Klingers Radierungen regten Max Ernst zu surrealistischen Arbeiten an; sein Beethoven-Denkmal, im Foyer des Leipziger Gewandhauses zu bewundern, teilt den Ruhm mit dem dazugehörigen Gemäldefries von Gustav Klimt; das Gemälde „Blaue Stunde“ schließlich ergötzt lyrische Geschmäcker.
Zweimal innerhalb weniger Jahre widmete Klinger ein Monumentalgemälde der Figur Christus. Während das zweite, „Christus im Olymp“ (1897), in bizarrer Weise das Eindringen des Christentums in die antike Götterwelt darstellt und an Künstlichkeit kaum zu überbieten ist, zeigt das ältere eine traditionelle Kreuzigungsszene (1890). Die drei Kreuze überragen die klagenden und zuschauenden Personen kaum. Wie in einem Bild von Lucas Cranach d.Ä. ist Christus aus der Nähe und seitlich dargestellt. Klinger übernimmt nur den Bildgegenstand, ohne die christliche Ikonographie fortzuschreiben. Die Figuren stehen nebeneinandergereiht auf einer Art Bühne und schirmen die Tiefe des Hintergrunds ab. Einige sind nackt, andere tragen zeitgenössische und historisierende Kleider. In ihrer distanzlosen und naturalistischen Schilderung erinnern sie an die Gesellschaft in einer Inkunabel der realistischen Kunst, Gustave Courbets „Begräbnis in Ornans“; tatsächlich war zu Lebzeiten Klingers besonders die historische Richtigkeit seiner Darstellung Ziel heftiger Angriffe seitens religiöser Kreise. Der Maler baut aber Irritationen ein: Christus erscheint als apollinische Lichtgestalt, mit einem durch Verzeichnung verkümmerten Arm, und der Apostel Johannes trägt die Gesichtszüge Beethovens. In der Zone der drei nackten Gekreuzigten befindet sich niemand sonst als ein nacktes Männerpaar in einer erotischen Stellung. Es macht vollends klar, daß es in diesem Bild weniger um die Polarisierung von Leben und Tod geht als um den Gegensatz von Lebenswelt und künstlerischer Sphäre. Es sind solche irritierenden Elemente, die seinen Bildern oftmals jenen entscheidenden Kick geben, der sie für die SurrealistInnen interessant macht. Giorgio de Chirico attestierte 1920 in einem Nachruf dem Künstler „romantisch-modernen Geist“: er besitze „die dramaturgische Gabe, die in einigen Filmdramen zu beobachten ist, in denen Personen der Tragödie und des modernen Lebens zwischen erschreckend realen Szenen in magischen Augenblicken identisch werden“. Diese Modernität wird zweifellos in seinen Grafiken am stärksten sichtbar. Sie bestechen gleichzeitig durch sorgfältige Durchzeichnung und malerische Wirkung.
Die entscheidende Bildidee findet sich teilweise erst in den Endprodukten. Aus einer japonistischen Zeichnung mit einem Melancholiker vor einem blühenden Baum und einem einsamen Berg im Hintergrund entstand das dritte Blatt der „Paraphrase über den Verlust eines Handschuhs“. Darin versetzt Klinger sich selbst als schmachtenden Jüngling ins eigene Bett, neben sich ein Nachttischchen mit zwei brennenden Kerzen. Die Landschaft würde zur Fototapete seiner Kammer schrumpfen, wäre nicht ein Bachlauf eingefügt, an dessen Ufer die geheimnisvolle Frau steht, die er hoffnungslos begehrt.
Wie vielleicht keinE KünstlerIn vor ihm beschäftigte sich Max Klinger mit seinem eigenen Gefühlsleben. In zeitlicher Nähe zu Psychologen wie Bachofen und Freud lebend, überschritt er die Grenze vom Selbstporträt zur Selbstanalyse. Klinger war 22 Jahre alt, als er mit den Arbeiten an der Handschuh-Serie begann. Auf der Rollschuhbahn an der Berliner Hasenheide fand er denselben, den eine elegante Brasilianerin verloren hatte. Dieser Fetisch inspirierte ihn zu einer dramatischen Traumgeschichte.
Obwohl er ein wenig wie ein Faun aussah, besaß Max Klinger nicht annähernd die unbekümmerte Lebens- und Sinnenlust, die diesem Fabelwesen zugesprochen wird. In seinen Frauenbildern zeigt sich oft eine Angst vor den „bösen Müttern“, die Giovanni Segantini geistesverwandt beschwor. Eva, Salomé und Kassandra gehörten zu den bevorzugten Frauengestalten Klingers. Heiterer zeigen sich die Gemälde des „Meeresfrieses“, der die Villa Albers in Berlin-Steglitz schmückte (1882/84).
Die in Leipzig konzipierte und zuerst in Frankfurt gezeigte Werkschau will ausdrücklich jene Verfestigungen auflösen, die sich aus der bisherigen Klinger-Rezeption ergeben. Deshalb sind etliche selten gezeigte Gemälde und Plastiken zu sehen. Besondere Mühe steckt in der Auswahl der Grafiken. Zwischen 1879 und 1898 entstanden 13 Zyklen, die Hälfte davon vor 1885, unter ihnen die bekanntesten, beispielsweise „Eva und die Zukunft“. In der Ausstellung wird die Geschlossenheit der Serien aufgegeben zugunsten einer thematischen Gliederung. Bei einer Suite wie der Handschuh-Paraphrase mißlingt dieses Verfahren, weil deren Einzelbilder eng zusammenhängen; einige der den Ausstellungsabteilungen vorangestellten Motti erinnern an Briefmarkensammeln nach Motiven: zum Beispiel zeigt „Passion des Menschen“ eine stupide Reihung von posierenden, fliegenden oder schaukelnden Frauen und Paaren. Ihr größtes Verdienst erwirbt sich die Ausstellung deshalb weniger durch die Sortierung; statt dessen faszinieren die Vergleiche von Vorzeichnungen, Studien und ausgeführten Radierungen.
Klinger, der nach der grandiosen Beethoven-Installation in der Wiener Sezession 1902 in den künstlerischen Vorruhestand trat, erarbeitete bis dahin ein imponierendes Gesamtwerk. Er verstand es, traditionelle Kunstthemen in die Gegenwart zu übersetzen. Auf der Reise ins Innere der Seele ließen sie sich in eine Bilderwelt einbauen, deren Kontur und Farbe gerade sichtbar wurde. Klingers Bildersprache zeigt zwei Aspekte der Psychologie: erstens ihre Verfremdung des Alltags — de Chirico spricht von der „Melancholie der Überseehäfen“ —, zweitens die Nähe, in der sich die Gefühle Angst und Liebe befinden. Seine Kunst beweist auch, daß Modernität keine Formel für ein bloßes künstlerisches Problem ist, sondern Aufgeschlossenheit der Kunst für die soziale Gegenwart einschließt.
Max Klinger 1857 — 1920: Ausstellung in Wuppertal, Von der Heydt- Museum. Bis 6.September 1992
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