SOMNAMBOULEVARD — AB IN DIE TRAUMOTHEK Von Micky Remann

Was die Videothek im Wachzustand, das ist auf dem Somnamboulevard die Traumothek: eine Bibliothek mit von anderen Menschen geträumten Träumen. Hier können wir uns mit und ohne Leihausweise bei den feinstofflich konservierten Träumen bedienen, egal ob sie nun von Frau Neanderthal, Herrn Goethe oder Grace Kelly urgeträumt wurden. Kompatibilitäts- oder Copyrightprobleme gibt es in diesem Bereich nicht, der seiner Natur nach transpersonal ist, das heißt, ich gehe einfach ans Regal, nehme den gewünschten Traum raus, schiebe ihn in mein VCR-Nervensystem, als wär's ein Video, aber das sagte ich ja bereits. Seit die Traumothek aufgemacht hat, gibt es auch bei uns jede Menge somnambuler Couch-Potatos, die sich, ausgerüstet mit Fernbedienung und Salzstangen, anderer Leute Alp-, Sex-, Fantasy- oder Mystikträume reinziehen. Heute habe ich mich mal in der Action-Ecke umgetan und mir einen Originaltraum der romantischen Rahel Varnhagen aus dem Jahre 1812 ausgeliehen. Es geht los, Traum ab: „Ich befand mich auf einem äußersten Bollwerk einer sehr ansehnlichen Festung, welches sich in breiter, flacher, sandiger Ebene weit hinausstreckte. Es war heller, lichter Mittag, und das Wetter an diesem Tage von den zu hellen Sonnenscheinen, die eine Art von Verzweifeln hervorbringen, weil sie nichts Erquickliches haben. Dieser zu helle Sonnenschein reizte mir Augen und Nerven und ängstigte mich schon auf eigene Weise. So stand ich dicht mit der Brust am Rande dieser alten Schanze, von einem ganzen Volke hinter mir gedrängt. Diese Menschen waren alle wie Athener angezogen, F. stand neben mir in rosafarbenem Taffet, ohne im geringsten lächerlich auszusehen. Ich sollte von dieser Schanze hinuntergeworfen werden, tief hinab, unter Steine, kalkige Sandgruben, verfallene Festungsstücke und Schutt. Das Volk verlangte es und schrie zu F., der ihr König war, er möchte Ja sagen! Er stand grausam verbissen da und sah nach der Tiefe. Man schrie stärker und heftiger und forderte sein Ja, immer dichter an mir, faßten sie schon an meine Kleider. Ich suchte F. in die Augen zu sehen und schrie immer: ,Du wirst doch nicht Ja sagen?‘ Er stand unbeweglich und verlegen da. Verlegen gegen das Volk, noch nicht Ja gesagt zu haben. ,Du wirst doch nicht Ja sagen?‘ schrie ich wieder. Das Volk schrie auch, darauf er: ,Ja!‘ Man ergriff mich, stürzte mich über den Wall, von Stein fiel ich zu Stein, und als ich nach der letzten Tiefe kommen sollte, erwachte ich.“

Bumm! Abspann. Hier ist das Traumtape zu Ende. Ich könnte es jetzt zurück zur Traumothek bringen. Ich könnte es aber auch noch mal abspielen und mich diesmal aktiv-luzide ins Geschehen einmischen. Vielleicht, daß ich als rettender Ritter angebraust komme, „Auseinander!“ ins Volk rufe, dem fiesen König F. was auf die Schnauze gebe, um dann mit Rahel auf dem Pferd zu ihrem romantischen Salon nach Berlin zu galoppieren. Wäre 'ne Möglichkeit.